Was ist eigentlich Narzissmus?

Inhaltswarnungen: anschauliche Beispiele für emotionale Gewalt, Erwähnung anderer Gewaltformen, Erwähnung von negativen Gedanken einschließlich Suizidalität

Nachdem ich kürzlich mit einer Person gesprochen habe, die die Diagnose einer „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ bekommen hatte und darüber recht schockiert war („Im Internet schreiben alle darüber, als wäre ich deswegen automatisch ein Monster.“), habe ich mich entschlossen, einen Blogbeitrag zu schreiben, über den ich schon länger nachdenke. Es geht darum, verschiedene Konzepte auseinanderzuhalten, die alle irgendwie mit Narzissmus zu tun haben. Die drei Teile des Artikels sind:

1. Was sind narzisstische Bedürfnisse?

2. Was ist eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“?

3. Was ist narzisstischer Missbrauch?

Hinweis: Über diese Themen kann man ganze Doktorarbeiten schreiben. Die Informationen sind weder vollständig, noch eignen sie sich, um irgendeine Form von Eigen- oder Fremddiagnostik durchzuführen. Sie geben lediglich einen kurzen Einblick in die Thematik!

Fangen wir mit dem ersten an. Der Begriff „narzisstische Bedürfnisse“ fasst alle die Bedürfnisse zusammen, die wir in Bezug auf unseren Selbstwert haben. Dazu gehört z. B., von anderen Menschen Anerkennung und Wertschätzung zu bekommen, aber auch, ein positives Selbstbild zu haben, z. B. innere Haltungen, die sagen „Ich bin etwas wert.“ oder „Ich kann etwas.“.

Bei kleinen Kindern sind diese Bedürfnisse sehr deutlich sichtbar: „Guck mal, wie hoch ich springen kann.“, „Guck mal, das habe ich selbst gemacht.“, „ICH will jetzt neben dir sitzen.“, „Die anderen sollen nicht mitkommen, du sollst nur mit mir spielen.“, “Ich zuerst!”

Alle Menschen wollen von anderen wahrgenommen und gesehen werden.

Als Erwachsene lernen wir, Anerkennung weniger plump einzufordern: „Die Torte habe ich nach einem neuen Rezept gebacken, das war gar nicht so leicht.“ („Guck mal, wie gut ich backen kann!“) „Ich habe diese Woche wieder 50h gearbeitet, aber ohne mich läuft in der Firma ja nichts.“ (“Guck mal, wie viel ich leiste.”, „Guck mal, wie wichtig ich bin.“, „Guck mal, wie viel Expertise ich habe.“) „Das auf dem Foto hier bin ich mit Brad Pitt.“ („Guck mal, was für tolle Leute sich mit mir abgeben.“)

Menschen haben unterschiedlich stabile positive Selbstbilder bzw. ein unterschiedlich stabiles Selbstwertgefühl. Ein schlechtes Selbstwertgefühl kann ein dauerhaftes Problem sein, aber z. B. auch ein akutes Symptom einer Depression. Als Reaktion auf ein niedriges Selbstwertgefühl kann es sein, dass auch mal mehr Bestätigung von außen gesucht und gebraucht wird, oder dass auf fehlende Bestätigung sehr stark reagiert wird. („Ach, der Kuchen schmeckt dir gar nicht, wie schade.“ im Vergleich zu: „Ich kann ja wohl gar nichts, wenn mir nichtmal ein Kuchen gelingt.“)

Letztlich wünschen wir uns alle das Gefühl, bedingungslos geliebt und wertgeschätzt zu werden. Wenn wir dieses Gefühl als Grundlage in unserem Selbstwert verankert haben, bringen uns ein versalzener Kuchen oder sogar eine unerwartete Kündigung nicht so schnell aus dem Gleichgewicht. Wenn wir dieses Gefühl nicht oder nur eingeschränkt haben, müssen wir mehr darum kämpfen, uns mit uns selbst gut zu fühlen. Wenn das nicht gelingt, erleben wir Selbstzweifel, Gefühle von Minderwertigkeit, vielleicht Ängste und depressive Stimmungen, vielleicht Gefühle, gar nicht existieren zu sollen bis hin zu suizidalen Gedanken. Ein positiver Selbstwert ist unfassbar wichtig für unser Wohlbefinden!

2. Die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“

Ich schreibe das in Anführungsstrichen, weil der Begriff der Persönlichkeitsstörung sehr umstritten ist. Persönlichkeit ist schwer zu definieren, aber ja doch irgendwie ein sehr zentraler Teil des eigenen Menschseins (und deswegen ja z. B. auch im Grundgesetz geschützt). Von dieser persönlichen Grundlage eines Menschen zu sagen, es gäbe da eine „Störung“, ist in vielerlei Hinsicht problematisch. Was mit dem Begriff der Persönlichkeitsstörung aber vor allem gemeint ist, ist, dass es Muster im Erleben und Verhalten gibt, die überdauernd sind. Menschen entwickeln diese Muster bereits im Kindes- oder Jugendalter und behalten sie im Wesentlichen bei. Das ist im Unterschied zu z. B. einer Depression zu sehen, bei der bestimmte Denkmuster nur während einer akuten Episode auftreten und sonst nicht. (Natürlich neigt man auch in einer Depression zu einer Sorte negativer Gedanken, die in einem irgendwie schon vorher angelegt sind. Aber sie werden eben dann akut und sind es sonst nicht.)

Wenn von „narzisstischer Persönlichkeitsstörung“ gesprochen wird, kann man es also vielleicht übersetzen mit: „Bei dieser Person liegen überdauernde Muster im Erleben und Verhalten vor, die stark von einer narzisstischen Verletzlichkeit geprägt sind.“

(Vorsicht: Das ist die Definition, wie ich sie an dieser Stelle vorschlage. Das ist fachlich durch mein Studium und meine therapeutische Ausbildung fundiert, aber es mag auch Fachleute geben, die das anders sehen.)

Nach dieser Vorrede: Die Fachwelt ist sich mittlerweile einig, dass Menschen dann eine starke narzisstische Verletzlichkeit entwickeln, wenn ihr Selbstwertgefühl schon so früh massiv beeinträchtigt wurde, dass sie im Grunde genommen permanent damit beschäftigt sind, ihren Selbstwert zu beschützen. Wenn sie also keine Gelegenheit hatten, sich bedingungslos geliebt und wertgeschätzt zu fühlen, oder diese Gefühle gestört wurden und nicht langfristig ins Selbstbild integriert werden konnten.

Sie nutzen dann zur Selbstwertstabilisierung im Wesentlichen die gleichen Strategien wie andere Menschen auch. Vielleicht arbeiten sie enorm viel, backen für jede Geburtstagsfeier eine extravagante Torte, protzen mit prominenten Bekanntschaften, Reichtum, Schönheit oder dem eigenen Altruismus. Der Unterschied zu anderen Menschen besteht im Ausmaß und in der damit einhergehenden emotionalen Verzweiflung.

Wie eingangs beschrieben, werden narzisstische Menschen derzeit in Artikeln oder Social Media häufig als manipulative, egoistische Monster oder ähnliches beschrieben. Leute, die viel arbeiten oder häufig Kuchen backen, sind für ihr soziales Umfeld aber erstmal kein Problem. Sie sind manchmal anstrengend, weil sie anderen wenig Rampenlicht lassen können, oder weil sie eigene Leistungen ständig übermäßig toll darstellen, oder weil sie vielleicht bei jedem noch so alltäglichen Projekt „größer denken“ wollen.

Ja, der Marmorkuchen ist lecker. Ich hab neulich zur Hochzeit einer Bekannten eine fünfstöckige Torte, warte, ich zeige euch Fotos…“

Ach, das sind deine Urlaubsfotos aus Dänemark? Wir planen gerade unsere Weltreise…“

Du hast eine Depression? Ich bin schon seit zwei Jahren im Burnout, aber zum Ausbrennen muss man gebrannt haben, ne?“

Ohne mich wäre das ganze Projekt an die Wand gefahren, ehrlich, die anderen sind alle sooo inkompetent.“

Aber so sieht der Adventsbasar jedes Jahr aus. Lasst uns dieses Jahr etwas großartiges machen! Wir könnten Helene Fischer anschreiben.“

Üblicherweise wird gesagt, dass Menschen mit narzisstischer Persönlichkeit über wenig Empathie verfügen. Vielleicht wirkt es auch wenig empathisch, wenn jemand gar nicht auf den Urlaub in Dänemark oder die Depression eines Freundes eingeht. Aber das Problem ist hier eigentlich nicht ein Mangel an Empathie, sondern die übermäßige Intensität der eigenen narzisstischen Bedürfnisse. Vielleicht ist völlig klar, dass jemand sich Interesse an den eigenen Urlaubsfotos wünscht, aber es kann trotzdem nicht ausgehalten werden, dieses Interesse auch zu geben. Vielleicht darf oder kann das dann auch nicht wahrgenommen werden, sodass in dieser Situation tatsächlich die Empathie kurz kommt. Aber es gibt z. B. auch Menschen mit sehr starken narzisstischen Bedürfnissen, die ihren Selbstwert durch Aufopferung und das Gefühl, gebraucht zu werden, stabilisieren und auf andere unfassbar empathisch und zugewandt wirken.

Ein weiteres Klischee ist, dass narzisstische Menschen sich selbst für unglaublich toll halten. Dabei handelt es sich aber nur um eine Fassade aus „tollen“ Eigenschaften, hinter denen man Selbstwertprobleme verstecken kann. Und wenn man Erfolg hat, versteckt man sie so auch vor sich selbst und muss sich nicht permanent schlecht fühlen. Das ist dann auch der Grund, warum auf jedes Kratzen an der Fassade mit vergleichsweise extremen Gefühlen reagiert wird. Vielleicht reicht ein misslungener Kuchen, um in tiefe Selbstzweifel zu fallen, die sogar das eigene Lebensrecht in Frage stellen. Und ja, diese Extreme können insbesondere für die Nahestehenden zum Problem werden. Und insbesondere dann, wenn sie sich aggressiv äußern und gegen andere Personen richten, kommen wir in Bereiche, wo es um Gewalt und ggf. Missbrauch geht. Aber nicht jede Person mit starker narzisstischer Verletzlichkeit neigt zu Aggression und Gewalt.

Dazu kommt, dass es zwischen “gewöhnliche narzisstische Verletzlichkeit” und “so starke Verletzlichkeit, dass es als Störung bezeichnet werden könnte” keine klare Trennlinie gibt und die Vergabe einer Diagnose am Ende doch nicht so objektiv ist, wie man das gerne hätte.

Weil es in Filmen mitunter den „Liebe heilt alles“-Trope gibt, ein kurzes Wort dazu: Nein. Man kann narzisstische Menschen nicht gesundlieben. Der Gedanke liegt nahe. Da ist eine Verletzung, dass Menschen sich nicht geliebt fühlen, also liebt man sie eben, bis sie es glauben. Aber die Psyche hat zu viele Möglichkeiten, auf ehrliche Liebe mit einem „Ja, aber ja nur weil…“ zu reagieren und es eben doch nicht zu glauben.

Das heißt nicht, dass die Lage aussichtslos ist, und ehrlich geliebt zu werden kann ein hilfreicher Begleitumstand für einen Menschen mit starken narzisstischen Bedürfnissen sein, um sich dem eigenen Schmerz zu stellen. Aber eben nur ein Begleitumstand. Nicht das Heilmittel selbst.

Und noch eine kleine Anmerkung: Autistische Menschen bekommen mitunter das Label „narzisstisch“ (ob nun als Diagnose oder von ihrem sozialen Umfeld), weil sie vielleicht Emotionen auf eine Art und Weise ausdrücken, die auf andere desinteressiert, unempathisch oder arrogant wirkt. Die Beschäftigung mit Spezialinteressen (und das häufige darüber reden) oder Schwierigkeiten darin, den eigenen Redeanteil in Gesprächen gut zu regulieren, können ähnlich wirken wie das ständige Einfordern von Aufmerksamkeit und Bewunderung.

Hinzukommt, dass viele autistische Menschen aufgrund von lebenslangen Erlebnissen von Nichtverstandenwerden und Ablehnung durch andere tatsächlich auch eine gewisse narzisstische Verletzlichkeit entwickeln und sich autistische und narzisstische Verhaltensweisen mischen. Ich halte es für sehr wichtig, hier sehr genau hinzusehen, bevor irgendein Label oder irgendeine Diagnose verteilt wird.

3. Narzisstischer Missbrauch

Narzisstischer Missbrauch passiert dann, wenn eine Person eine andere auf eine gewaltvolle Art dazu benutzt, den eigenen Selbstwert zu stabilisieren. Narzisstischer Missbrauch ist damit eine Form von emotionaler Gewalt. (Merke: Es gibt auch emotionale Gewalt, die kein narzisstischer Missbrauch ist.)

Eher offensichtliche Formen dieser Art von Gewalt sind Beleidigungen und Herabwürdigungen. Hier ist mehr oder weniger deutlich sichtbar: Eine Person setzt die andere herab, um sich selbst zu erhöhen.

Aber narzisstischer Missbrauch ist häufig subtil und auf eine unsichtbare Weise furchtbar. So kann es z. B. missbräuchlich sein, den eigenen Selbstwert an den Erfolg der eigenen Kinder zu knüpfen. Von außen sieht man möglicherweise engagierte Eltern, die bei schlechten Noten interessiert nachfragen. Und auch, wenn man die Interaktion zwischen Eltern und Kind beobachten würde, könnte man nichts Schlimmes sehen: Sie fragen besorgt nach, bieten Hilfe an.

Der Unterschied zwischen gesunder elterlicher Sorge und narzisstischen Missbrauch ist vielleicht kaum sichtbar und für Betroffene häufig über Jahre hinweg verwirrend. „Warum zieht sich in mir alles zusammen, wenn meine Eltern fragen, wie es an der Uni läuft? Das ist doch eine normale Frage.“

Der Hintergrund liegt in Mustern, die der Beziehung zu Grunde liegen, und die immer wirksam sind, auch dann, wenn sie nicht ausgesprochen werden. Diese Muster sind beispielsweise: „Wenn du meinem Selbstwert nicht dienlich bist, brauche ich dich nicht. Und wenn ich dich nicht brauche, will ich dich nicht. Du musst immer sein, was ich mir wünsche, sonst lasse ich dich allein oder zerstöre dich.“ (Im Vergleich zu einer gesunden elterlichen Botschaft, die vielleicht lauten könnte: „Wir sind bei dir und gehen mit dir durch alle Unwägbarkeiten des Lebens und helfen dir dabei, so gut wir es können.“)

Narzisstischer Missbrauch führt dazu, dass Menschen mehr oder weniger ihr gesamtes Sein an den (auch subtil ausgedrückten) Wünschen der Täter*innen orientieren, ihr Gefühl dafür verlieren, wer sie selbst eigentlich sind oder was eigene Wünsche wären. Es gibt einen permanenten Horror darüber, von der anderen Person abgelehnt und in der Folge zerstört zu werden. Keine einzige Lebensentscheidung wird mehr frei davon getroffen.

Narzisstischer Missbrauch kann (muss aber nicht) mit physischer oder sexueller Gewalt einhergehen. Die Drohung des „Zerstörens“ kann bis zu Morddrohungen (und deren tatsächlicher Umsetzung) gehen. Es können aber z. B. auch Selbstmorddrohungen der Täter*innen oder diffuse „Deinetwegen geht es mir schlecht“-Botschaften sein, die die Zerstörungsdrohung ausmachen.

Narzisstischer Missbrauch geht oft mit verschiedenen Verboten einher, die häufig nicht einmal offen ausgesprochen oder als etwas Positives dargestellt werden.

Beispiele (Liste unvollständig):

  • Verbot von Privatsphäre („Wir vertrauen uns doch, wir haben doch nichts voreinander zu verbergen.“, „Ich habe dich als Baby gebadet, vor mir musst du dich doch nicht schämen.“)
  • Verbot von freundschaftlichen oder sonstwie positiven anderen Beziehungen („Was willst du denn mit denen? Die tun dir nicht gut.“, „Ich bin di*er einzige, di*er dich wirklich versteht.“)
  • Verbot von eigenem Kleidungsstil („Guck mal, das hier steht dir viel besser.“, „So willst du rausgehen?“)
  • Verbot von finanzieller Eigenständigkeit („Du brauchst nichts, du bekommst doch alles von mir.“)
  • Verbot eigener Zukunftsplanung („Dafür müsstest du aber wegziehen und ich möchte einfach nicht ohne dich sein. Du bist alles für mich.“, „Ich weiß ja nicht, das klingt für mich, als wäre es zu viel für dich.“)

Betroffene geraten häufiger in Situationen, in denen sie gar nichts richtig machen können, weil sie entweder gegen das eine Verbot oder gegen das andere verstoßen. Zum Beispiel „Du darfst nicht scheitern.“, aber gleichzeitig: „Du darfst nicht besser sein als ich.“ Oder: „Du darfst dich nicht sexy geben“ und gleichzeitig „Du darfst keine graue Maus sein.“.

Ich hoffe, diese etwas plakativen Beispiele machen deutlich, wie quälend narzisstischer Missbrauch für die Betroffenen ist. Was ich hier schreibe, sind nur kleine Ausschnitte des möglichen. Diese Art Missbrauch kann auf vielfältige Weise passieren. Manchmal ist sie für Außenstehende offensichtlich, manchmal kaum erkennbar. Die Betroffenen selbst haben oft sehr gemischte Gefühle gegenüber den Täter*innen, weil neben der permanenten Qual auch Gefühle wie Liebe, Dankbarkeit oder Bewunderung bestehen. Gerade bei subtilen Formen fällt es schwer, überhaupt zu erkennen, was einen unglücklich macht. Katastrophalerweise ist häufig nicht einmal den Täter*innen bewusst, was sie eigentlich tun und anrichten. (Katastrophal deswegen, weil das bedeutet, dass es weniger Ansatzpunkte für Verbesserung gibt.)

Es sind sicher solche quälenden Erfahrungen, die zu Artikeln mit Titeln wie „Ich datete ein Monster“ führen. Ich finde solche Benennungen generell schwierig. Eine wirklich harte Realität ist, dass Gewalt von gewöhnlichen Menschen ausgeübt wird. Und alle diese Menschen sind für ihr Tun verantwortlich. Selbst dann, wenn im Hintergrund großer persönlicher Schmerz liegt. Selbst dann, wenn Leute das ganze Ausmaß ihrer Handlungen wirklich nicht wahrnehmen können. Denn Grenzen werden schon bei der ersten Beleidigung, der ersten Herabsetzung, der ersten Machtdemonstration überschritten.

Unsere Gesellschaft ist generell eher schlecht darin, Verantwortlichkeiten für solches Verhalten klar zu benennen. Wir haben eine ganze Kultur an Victim Blaming und anderen Mechanismen, die Gewaltausübende ziemlich effektiv davor schützen, Verantwortung übernehmen zu müssen. Wir müssen besser darin werden, Grenzen, Gewalt und Verantwortung sichtbar zu machen.

Zum Schluss:

Eingangs erzählte ich von einer Bekannten, die über ihre Diagnose schockiert war. Und tatsächlich kann der Hintergrund narzisstischen Missbrauchs sein, dass eine Person eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ hat. In den Diagnosekriterien im DSM wird „ausbeuterisches Verhalten in Beziehungen“ als ein Kriterium genannt, das für die Diagnose spricht. Aber es ist ein optionales Kriterium, d. h. man kann auch dann die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung bekommen, wenn man das nicht tut. Für die Diagnose ist es z. B. ausreichend, wenn man ständig und in starkem Ausmaß eigene Leistungen überbetont, Fantasien eigenen Erfolgs nachhängt, eine bevorzugte Behandlung erwartet, viele Gedanken rund um Neid (auf andere oder von anderen) hat und sich anderen gegenüber arrogant und überheblich verhält. Ich finde, das klingt zwar immer noch nach einer anstrengenden Person, aber mehr eben erstmal auch nicht. Und man darf in der Aufzählung nicht vergessen, dass Menschen nicht ausschließlich diese Eigenschaften haben, sondern dass vielleicht noch eine ganze Menge coole, liebenswerte Dinge zu ihrer Persönlichkeit gehören.

Dass hier sowohl für die psychische Störung als auch für Missbrauch das gleiche beschreibende Adjektiv verwendet wird, führt mitunter dazu, dass Menschen die verschiedenen Dinge durcheinander bringen. Deswegen habe ich diesen Artikel mit dem Thema der narzisstischen Bedürfnisse begonnen. Diese spielen in beiden Sachverhalten eine wichtige Rolle und legen so die entsprechende Benennung nahe. Sexueller Missbrauch ist ja auch etwas anderes als eine sexuelle Funktionsstörung. Bei gut bekannten Konzepten gelingt uns die Unterscheidung ganz gut. Vielleicht kann dieser Artikel dazu beitragen, etwas mehr Klarheit zu den unterschiedlichen Begriffen zu schaffen.

Und ja, man könnte generell darüber nachdenken, ob nicht der Begriff der „narzisstischen Persönlichkeitsstörung“ gestrichen gehört und stattdessen vielleicht von einer Selbstwert-Kompensations-Störung oder ähnlichem sprechen. Aber mit solchen Dingen ist die Fachwelt ziemlich langsam und solange Begriffe in den Diagnosehandbüchern stehen, wird es Leute geben, die mit dieser Diagnose konfrontiert werden.

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