Ein Grundlagentext
Inhaltshinweis: Beschreibung sehr negativer Gefühlslagen
Ich lese immer wieder mal Diskussionen darüber, wie wichtig denn „politische Korrektheit“ in Medien ist. Gerade mal wieder eine Kolumne dazu gelesen, dass man offenbar „gar nichts mehr schreiben“ könne, weil einem sowieso alles „falsch“ ausgelegt werde. Oft geht es in den Diskussionen um konkrete Themen, z. B. ob bestimmte, beleidigende Wörter in Fiktion genutzt werden sollten oder nicht oder wie viel Oberweite eine Kämpferin in einem PC-Spiel braucht. Ich lese immer wieder Argumente, dass diese ganzen Ansprüche an nicht-diskriminierende Inhalte die Kreativität stören würden. Manch einer nennt es sogar Zensur.
Dabei habe ich dann oft den Eindruck, dass ein Grundverständnis dafür fehlt, warum es überhaupt relevant ist, ob fiktive Geschichten bestimmte problematische Inhalte haben. Es ist doch nur eine Geschichte, nur ein Spiel, nicht die Realität. Niemand hat irgendeine böse Absicht.
Ich hatte versucht, einen guten Text dazu zu finden, auf den ich verweisen kann. Die meisten Texte, die ich gefunden habe, überspringen diesen ersten Schritt aber und drehen sich gleich um bestimmte problematische Inhalte. Deswegen habe ich nun entschieden, selbst zu versuchen, ein paar grundlegende Dinge festzuhalten. Dabei rede ich von Geschichten und meine damit im Grunde alle Medien. Schließlich erzählt selbst ein Werbespot in der Regel eine kurze Geschichte. Auch ein kleines Minispiel bettet die Spieldynamik in Kontext ein.
Ich freue mich sehr über Anmerkungen zu diesem Text und werde ihn ggf. gern ergänzen!
Abschnitt 1: Einige grundlegende Funktionsweisen unseres Gehirns:
Das wird hier jetzt erstmal sehr allgemein, ist aber wichtig, um die Ausführungen weiter unten gut mitverfolgen zu können.
Wir strukturieren unsere Wahrnehmungen. Das ist notwendig, weil wir sonst in der Welt nicht klarkommen könnten. Wenn wir z. B. bei jedem etwa zwei Quadratmeter großen, flachen Ding in einer Wand erstmal überlegen müssten, wofür dieses Ding wohl gut sein könnte, statt es einfach als Tür zu erkennen, wäre das nun wirklich keine Bereicherung für unser Leben.
Strukturen, die wir erstmal in unseren Köpfen haben, bestätigen sich selbst. Komme ich in einen unbekannten Raum und sehe dort ein zwei Quadratmeter großes Ding mit Türklinke, dann hinterfrage ich erstmal nicht, ob es sich dabei wohl um eine Tür handelt. Ich würde auch vermuten, dass dahinter ein weiteres Zimmer liegt. Wenn ich nicht versuche, hindurchzugehen, werde ich nie erfahren, wenn es z. B. nur ein Schmuckelement oder ein Kühlschrank ist. Und selbst wenn ich diese Feststellung mache, deklariere ich es als Ausnahme und werde nicht sofort große Skepsis gegenüber allen Türen entwickeln. Meine Struktur in Bezug auf Türen ist ziemlich verfestigt.
Strukturen, die wir kennen, können wir leichter verarbeiten und mögen sie daher mehr. Das merke ich ganz stark, wenn ich irgendwo etwas in altdeutscher Schrift lese. Ich kann das schon, aber es strengt mich an und ein ganzes, langes Buch würde ich so nicht lesen wollen. Obwohl ich mich dann vermutlich irgendwann eingelesen hätte und es schrittweise leichter werden würde. Reine Bekanntheit, also allein das häufige Sehen, reicht übrigens aus, dass wir z. B. Firmenlogos oder Menschen als angenehmer oder sympatischer empfinden.
Stichwörter, unter denen man die hier benannten Phänomene suchen und sich weiter einlesen kann, sind z. B.: Entwicklungsstufen nach Piaget (insbesondere Schemata, Adaption, Assimilation), selektive Wahrnehmung, Confirmation Bias, Mere-Exposure-Effekt.
Abschnitt 2: Wiederkehrende Strukturen in Geschichten
Geschichten sind in verschiedener Weise von den Strukturen betroffen, die Menschen so in ihren Köpfen haben: Erst schlagen sich die Strukturen der erzählenden Person in der Geschichte nieder. Dann wird die Geschichte von einem Menschen mit seinen ganz eigenen Strukturen wahrgenommen. Und dann trägt die Geschichte auch noch zum Formen von Strukturen bei, kann diese bestätigen oder verändern.
Hier ein Beispielverlauf:
Schritt 1: Ich schreibe eine Geschichte.
Selbst wenn ich eine Geschichte nur aus Spaß und zur reinen Unterhaltung schreibe, kommen dabei meine tief verinnerlichten Strukturen zum Tragen. Zum Beispiel habe ich (bewusst oder unbewusst) bestimmte Ideen dazu, was eigentlich spaßig und unterhaltsam ist, was für mein Publikum angenehm oder unangenehm zu lesen wäre, womit ich Interesse wecken kann, was ein Tabu ist oder was bloß gähnende Langeweile erzeugt.
Ich schreibe also fröhlich und unbedacht drauf los und meine Haltungen und Strukturen finden sich automatisch in der Geschichte wieder. Zum Beispiel erwarte ich von meiner Leserschaft, dass sie etwas mit dem Begriff „Tür“ anfangen können, während ich den Begriff „hypersensitives Quellenbarometer“ lieber erkläre.
Schritt 2: Die Geschichte wird gelesen.
Die Lesenden merken durch die vorhandenen und nicht vorhandenen Erklärungen ziemlich schnell, wo ich ihnen Wissen zutraue und wo nicht. Auch bekommen sie eine Ahnung, was für mich Normalität und Alltag ist und was nicht. Es gibt gute Chancen, dass meine Geschichte besonders gern von Leuten gelesen wird, die einen ähnlichen Hintergrund haben wie ich. Also Leute, für die Türen zum Alltag gehören, die aber noch nicht von einem hypersensitiven Quellenbarometer gehört haben. Das hat damit zu tun, dass die Geschichte gut zu ihrem Erfahrungshorizont passt, sie sich wenig auf unbekannte Strukturen einstellen müssen und es deswegen nicht besonders anstrengend ist, meine Geschichte zu konsumieren. Gleichzeitig ist noch genug Neues dabei, dass es nicht einfach furchtbar langweilig ist.
Leute hingegen, die erst nachschlagen müssen, was eine Tür ist, finden meine Geschichte vielleicht eher anstrengend. Leute, die mit dem Begriff Tür völlig anderes verbinden als ich, werden vielleicht sogar auf eine unangenehme Weise verwirrt oder halten meine Darstellungen für fehlerhaft oder sogar verwerflich.
Schritt 3: Die Geschichte formt Strukturen.
Einige Lesende haben durch die Geschichte neues Wissen hinzugewonnen: Sie wissen jetzt, was ein hypersensitives Quellenbarometer ist. Damit geben sie vielleicht sogar in ihrem Freundeskreis an und die Geschichte hat einen weiterreichenden Effekt auf die Verbreitung dieses Wissens. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen darin bestätigt, dass Türen zum Hindurchgehen sind, weil das in der Geschichte erneut so dargestellt wurde.
Andere Lesende, die das Konzept der Tür noch gar nicht kannten, haben vielleicht etwas nützliches darüber gelernt. Vielleicht war die Darstellung aber auch zu knapp, sodass sie gar keine gute Vorstellung davon bekommen haben, was genau das sein soll. Lesende, für die Türen etwas ganz anderes sind, lehnen meine Darstellung vermutlich erstmal ab oder deklarieren sie als Ausnahme. An ihren Strukturen dürfte sich wenig ändern.
Und dann hat die Geschichte auch auf mich Einfluss: Ich lese da meine eigene Einstellung, und wenn ich dafür nicht eine ganze Menge Kritik bekomme, gehe ich erstmal davon aus, dass sie von anderen so geteilt wird. Ich bestätige mich durch meine Geschichte erstmal selbst. Das fühlt sich auch gut an.
Abschnitt 3: Die kollektiven Strukturen
Es gibt bestimmte Dinge, die von der großen Mehrheit einer Gesellschaft als bekannt/vertraut akzeptiert sind. Dazu gehört z. B. die Funktionsweise von Türen. Und das nicht nur in unserer echten Welt: Wir kennen alle die automatischen Türen auf Raumschiffen, die irgendwo an der Seite oder in die Decke verschwinden. Das ist uns vertraut, weil es im SciFi-Genre häufig vorkommt, und nicht, weil wir es in unserem Alltag ständig erleben würden. Genauso kennen wir aus dem Fantasy-Genre Portale, die irgendwie aus Licht bestehen und einen bis in andere Dimensionen teleportieren können.
Die Akzeptanz vom Prinzip „Tür“ geht so weit, dass wir davon ausgehen, dass Türen existieren, auch wenn diese nie benannt werden. Wenn etwa in einer Geschichte über eine Jugendliche viel Zeit in ihrem Zimmer spielt, aber erst nach zwei Dritteln des Buches eine Szene vorkommt, in der sie mit der Tür knallt, denken wir nicht: „Aber wo kommt plötzlich die Tür her?“ Wir sind vorher ziemlich sicher davon ausgegangen, dass ihr Zimmer eine hat. Anders bei dem Satz: „Frustriert warf sie ihr hypersensitives Quellenbarometer gegen die Wand.“ Das würde uns wundern, wenn dieses Gerät vorher nie vorgekommen ist.
Auch solche kollektiven Strukturen bestätigen sich immer wieder selbst. Wer nicht weiter darüber nachdenkt, reproduziert eh die bekannten Strukturen. Wer nachdenkt und möchte, dass Geschichten von einer Mehrheit konsumiert werden, hält sich ebenfalls an die gängigen Vorstellungen. Weil dann viele solcher Geschichten existieren, werden genau diese Vorstellungen auch immer weiter bestätigt und weiter verbreitet. Ausnahmen davon werden erst einmal eben als Ausnahme wahrgenommen und ändern allein noch keine Vorstellungen über die Welt. Eine einzige Geschichte über menschenfressende Türen ändert nicht, was wir von Türen erwarten.
Wenn wir aber z. B. ständig mit Geschichten konfrontiert wären, dass Türen nach dem Aufschließen zu gefährlichen Dimensionsportalen werden, wenn man nicht erst dreimal daran klopft, und wenn wir noch dazu erlebt hätten, dass unsere Eltern und alle anderen Menschen, die wir so kennen, vor dem Aufschließen einer Tür dreimal daran klopfen, dann würden wir vermutlich erstmal an die gefährlichen Dimensionsportale glauben. Es wäre Unsinn, aber diese Struktur wäre in unserem Kopf und es käme uns irgendwie seltsam vor, vor dem Aufschließen nicht dreimal zu klopfen.
Und wenn wir noch nie ein hypersensitives Quellenbarometer gesehen hätten, dann würden wir auch erstmal glauben, wenn Geschichten uns immerzu erzählen, dass ihre Messungen nicht besonders genau sind. Wir könnten es in unserem Alltag ja auch nicht nachprüfen.
Während Geschichten, wie oben benannt, an der Bestätigung und damit Stabilisierung bestehender Strukturen teilhaben können, können sie genauso zur Veränderung von Strukturen beitragen. Es gibt eine permanente Wechselwirkung zwischen der Entstehung von Geschichten und der Erfahrungswelt von Erzählenden und Konsumierenden. Andere Erfahrungen von Menschen führen zu neuen Geschichten. Oder andere Geschichten machen neue Erfahrungen erst möglich. Nicht ohne Grund brauchen wir zum Verständnis älterer Geschichten oft erklärende Kommentare, weil sich vieles gewandelt hat und das, was damals vom Publikum erwartet werden konnte, auf uns nicht mehr zutrifft.
Wenn ich nun eine Geschichte schreibe, dann mache ich mir Gedanken darüber, welche Haltungen, Einstellungen und Strukturen meine Geschichte widerspiegelt. Und ob das die Dinge sind, die ich in der Welt bestätigt und stabilisiert sehen will. Das heißt im Übrigen nicht, dass schwierige Themen nicht Teil von Geschichten sein dürfen. Es geht dann aber darum, wie davon erzählt wird und in welchen Kontext sie gesetzt werden. Ich kann ja über die bestehende Verunglimpfung von Quellenbarometern schreiben, aber dann sollte sie eben als Verunglimpfung erkennbar sein und nicht dazu beitragen, den Mythos ihrer ungenauen Messungen weiter zu bestätigen.
Abschnitt 4: Worum es eigentlich geht
Eigentlich geht es immer wieder um ein ganz bestimmtes Set innerer Strukturen, nämlich das, was wir über uns selbst und über andere Menschen und unsere/deren Möglichkeiten in der Welt verinnerlichen. Wir lernen von früher Kindheit an bestimmte Muster darüber, wie Menschen sein können oder was sie tun können. Und wir lernen auch einiges darüber, was von diesen Dingen auf uns selbst und auf andere zutrifft. Zum Beispiel lernen wir, dass Kinder nicht selbst Auto fahren, Erwachsene aber schon. Dies wird in Geschichten auch immer wieder so gezeigt und Kinder, die doch mal ein Auto lenken, stellen dann eine Ausnahme dar, die unsere Grundüberzeugung nicht stört. Oft werden diese Kinder auch als besondere Rabauken oder in einer besonderen Notlage gezeigt, die die Ausnahme erklärt. Das Autofahren ist in unserer Welt so präsent, dass wir auch bei einem erwachsenen Charakter, der nach zwei Drittel einer Geschichte das erste Mal Auto fährt, nicht denken: „Wow, warum wurde nie erwähnt, dass die einen Führerschein hat?“
Zu den kollektiven Strukturen unserer Gesellschaft zählen viele Vorurteile darüber, was Menschen tun oder lassen sollten, welchen Platz bestimmte Personengruppen in unserer Gesellschaft einnehmen sollten, welche Fähigkeiten bestimmte Menschen haben oder nicht haben. Und so weiter.
Je fester solche Vorurteile in der Gesellschaft verankert sind, desto schwieriger wird es, Vorstellungen zu entwickeln, die davon abweichen. Findet man dann heraus, dass eine Person – man selbst oder andere – gar nicht so ist, wie es doch aber „sein sollte“, kann das zu massiven negativen Gefühlen führen. Angefangen bei Selbstzweifeln und Irritation bis hin zu Aggression, Suizidalität, Feindseligkeit.
Je fester solche Vorurteile in der Gesellschaft verankert sind, desto zuverlässiger werden sie auch in fiktiven Geschichten wiederholt. Wir bestätigen durch Fiktion, was wir über die Welt zu glauben wissen. Abweichende Geschichten werden als schwierig, anstrengend, fehlerhaft, vielleicht sogar verwerflich wahrgenommen.
Abschnitt 5: Fazit
Wir brauchen Geschichten, die schädliche Strukturen herausfordern. Und wir brauchen verschiedene dieser Geschichten. Viele sogar, damit wir sie nicht mehr als Ausnahme zur Seite legen können. Wir brauchen sie aus verschiedenen Blickwinkeln, für Leserschaften mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund. Und wir brauchen sie auf allen Ebenen: Von der epischen neunbändigen Romanreihe über Zeitungskolumnen bis hin zum kurzen Werbespot.
Aber wir brauchen keine Geschichten mehr, die schädliche Strukturen bestätigen. Nicht mal ein bisschen.