Hinweis: Ich benutze das Wort „Kink“ in diesem Artikel als sehr breiten Überbegriff für alles, was als „normabweichend“ wahrgenommen wird. Beispiele beziehen sich hauptsächlich auf den Bereich bdsm.
Momentan treibt mich der Gedanke um, wie vieles, was irgendwo in den Bereich „Kink“ fällt, als besonders verrucht oder unanständig wahrgenommen wird und durch diese Assoziation dann dafür genutzt wird, ein Sexleben hin und wieder aufzupeppen. Also mal ein Lackröckchen angezogen und dazu mit Plastikhandschellen so tun, als würde man sich ans Bett fesseln, ist irgendwie akzeptable Erotik. Prickelt ein bisschen, ist aber „harmlos“. Ein Maß an Verruchtheit, das ok ist und einem selbst das Gefühl vermittelt, man wäre offen und experimentierfreudig. Kann man hinter vorgehaltener Hand auch kichernd im Freundeskreis erzählen.
Ich will das überhaupt nicht abwerten, wenn Leute genau das tun. Ich störe mich nur sehr massiv am damit verbundenen Doppelstandard: Denn wenn es nicht den Zweck hat, für Leute mit weit verbreiteten sexuellen Vorlieben eine Abwechslung zu sein, ist es irgendwie schlecht, „pervers“, ablehnungswürdig, wird vielleicht sogar als “krankhaft” wahrgenommen. Wenn sich ein Mensch gern immer ans Bett fesseln lässt, dann stimmt doch was nicht? Mit Kink assoziierte Dinge wie z. B. Fessel-Equipment, Lackkleidung oder Schlagwerkzeug werden wegen ihrer „Verruchtheit“ dann auch deutlich sexualisierter wahrgenommen als etwa ein Spitzen-BH, Brüste oder ausgestreute Rosenblätter. Entsprechend wird erwartet, sie nicht in der Öffentlichkeit zu zeigen. Man hört zu solchen Themen häufig Argumente wie: „Können ja alle machen, was sie wollen, aber bitte zu Hause.“
Dieses Framing, dass bestimmte Formen von Sexualität per se schon unanständig sind, stört mich sehr. Damit werden indirekt bestimmte Existenzen als per se unanständig erklärt. Aber Menschen, für die bestimmte Kinks zentraler Bestandteil ihrer Sexualität sind, sind nicht grundsätzlich anders. Sie sind nicht grundsätzlicher „verruchter“, „perverser“ oder auch nur sexuell aktiver als andere Menschen. Nicht einmal grundsätzlich experimentierfreudiger oder risikobereiter. Menschen mit kinky Vorlieben können genauso verschämt, verschlossen oder ängstlich sein. Kinky Sex kann genauso wie anderer aus festen, gleichbleibenden Routinen bestehen, kann aufregend oder langweilig sein, innerhalb oder außerhalb von festen Beziehungen stattfinden.
Mein Punkt ist: Kinky Sex unterscheidet sich in Wirklichkeit in sehr, sehr wenigen Punkten von anderem Sex. (Und keins von beidem ist unanständig.)
Aber mit der Zuschreibung von Verruchtheit und Perversität wird auch etwas anderes verteilt: nämlich Scham. Die Entdeckung eigener Kinks geht nicht unbedingt selten mit der Selbstwahrnehmung als falsch, pervers oder schlecht einher. Das hat Folgen: Menschen trauen sich teils selbst in festen, von Vertrauen geprägten Beziehungen nicht, ihre Bedürfnisse anzusprechen. Wenn sie es tun und keine Möglichkeit zum gemeinsamen Ausleben besteht, wird daraus nicht unbedingt ein neutrales „Wir passen da nicht zusammen“, sondern oft ein „Es ist meine Schuld, weil ich so bin“. Scham und Schuld, Selbstabscheu vielleicht sogar. Menschen, die ihre Kinks ausleben können, erleben teilweise das Gefühl eines “düsteren Geheimnisses”, vielleicht sogar eines “Doppellebens”, das unter allen Umständen verborgen bleiben muss.
Und an der Stelle bin ich auch wütend, dass andere sich Oberflächlichkeiten dieser Sexualität für sich herausnehmen, um sich hip und offen zu fühlen, während sie gleichzeitig verlangen, dass andere sich schämen und bitte zurückhalten und verstecken sollen. Ein Beispiel dafür? Fifty Shades of Grey läuft in den Kinos, wird mit Plakaten beworben und überall diskutiert, obwohl es krass toxische Stereotype verbreitet. „Kink at pride“ gilt aber immer noch als kontrovers, weil man doch die vielen Unbeteiligten, die aus Versehen zugucken könnten, vor der bösen, bösen Sexualität dieser Perversen beschützen muss.
Kink ist nicht böser als die Spitzen-BHs, die man in jedem zweiten Schaufenster oder Werbespot angucken kann!
Jetzt kann man sagen: Moment, so einfach ist das auch alles wieder nicht, weil manche Kinks halt schon krass sind. Manche Kinks haben Verletzungsrisiken, sowohl physische als auch psychische. Manche Kinks können missverstanden werden, z. B. als gewaltverherrlichend oder sexistisch.
Und da ist was dran. Und gerade deswegen ist es ziemlich wichtig, diese Kinks aus der „Schmuddelecke“ zu holen, ans Tageslicht, wo man sie gut und offen besprechen kann. Wenn Menschen sich trauen nachzufragen, und dann auch Informationen zu eben diesen Dingen bekommen, ist es doch viel wahrscheinlicher, dass sie gute und sichere Entscheidungen für sich treffen können. Dann fiele es vielleicht auch mehr Menschen auf, wenn in einem Buch eine hochproblematische, toxische Beziehung fälschlicherweise als bdsm geframed wird. Dann würde es vielleicht auch nicht ganz so viele miese Tropes im Romance-Genre geben, weil Themen wie Consent oder Grenzen viel selbstverständlicher in unserem Alltag wären. Denn auch “unkinky Sex” ist nicht per se respektvoll und harmlos. Und es wäre gerade für Menschen, die sich noch unsicher mit sich selbst sind, einfacher, eigene Grenzen abzustecken und nicht vor dem Hintergrund ihrer Neigung ausgenutzt zu werden, wenn sie von ein paar Dingen schonmal gehört hätten. Beispielsweise eine Diskussion dazu, was der Grundsatz „safe, sane, consensual“ in verschiedenen Situationen so heißen kann. Meinethalben ist dieser Grundsatz eh in einigen Lebenslagen ein guter Kompass und hat mit Kink nur so viel zu tun, dass er halt in der bdsm-Community enstand (soweit ich weiß).
tl,dr:
Sex ist nicht unanständig. Kinks sind nicht unanständig. Lasst uns offen über alles reden und Leuten nicht vermitteln, dass sie sich schämen und schuldig fühlen müssen, weil sie bestimmte Dinge mögen.