Privileg und Täterschaft

Inhaltswarnungen: systematische Gewalt, Erwähnung physischer Gewalt, Nennung heftiger, negativer Gefühle

Ich versuche, einen Gedanken niederzuschreiben. Es gelingt mir nicht so elegant, wie ich es gern hätte und ich versuche es daher einfach kleinschrittig. Zunächst einmal eine Grundannahme, auf der der Gedanke aufbaut: Wir alle leben in einem Gesellschaftssystem, in dem permanent und systematisch gewaltvolle Handlungen geschehen. Dazu gehören sexistische, klassistische, rassisistische Handlungen, Abwertung von Menschen mit Behinderung, von queeren Menschen und so weiter. Diese Handlungen sind systematisch, weil sie immer in derselben Weise passieren, nämlich in einer Hierarchie (männlich > weiblich, abled > behindert, Weiß > nicht-Weiß, reich > arm usw.).

(Ich benutze im folgenden die Worte Gewalt und Abwertung, weil es für mich die greifbarsten sind. Gemeint sind alle möglichen Formen von Diskriminierung.)

Für alle Menschen, die in dieser Gesellschaft aufwachsen, gilt daher: Sie wachsen mit Gewalt auf. Es ist offensichtlich, dass viele Menschen Opfer dieser Gewalt sind, in unterschiedlichem Ausmaß und in unterschiedlichen Bereichen. Ich kann z. B. aufgrund meines Geschlechts abgewertet werden, aber zum Glück reich genug sein, dass ich viele andere Abwertungen nicht ertragen muss.

Ein Gedanke, der mich seit geraumer Zeit beschäftigt, ist aber der folgende: Durch das System werden Menschen zu Täter*innen gemacht. Wir wachsen damit auf, anderen Gewalt anzutun. Auch hier wieder in unterschiedlichem Ausmaß, aber oft unabhängig davon, wo wir in der Hierarchie selbst stehen. Als von Sexismus Betroffene kann ich andere trotzdem sexistisch abwerten.

In dem Moment, wo wir anfangen, die Gewalt um uns herum selbst auszuüben, sind wir noch zu jung. Wir sind unschuldig. Wir sind genauso unschuldig wie ein Kind, das gezwungen wird, seine jüngeren Geschwister zu verprügeln. Wir sind selbst Opfer von Gewalt, weil wir gegen unseren Willen, ohne unser bewusstes Zutun, zu Gewalttäter*innen gemacht werden.

Ein Beispiel dafür sind Geschichten, die wir vielleicht als Kind geliebt haben. Die uns die Welt oder mehr bedeuten. In die wir uns stundenlang hineingeträumt haben oder die uns als Jugendliche durch die Pubertät, den ersten Liebeskummer, die ersten Lebenskrisen getragen haben. Als Erwachsene stellen wir dann vielleicht fest, dass eben diese Kinder- oder Jugendbücher sehr, sehr problematische Inhalte haben. Dass darin bestimmte Gruppen von Menschen systematisch abgewertet oder anders schlecht repräsentiert werden. Und dass wir in unserer inneren Beteiligung an der Geschichte eben auch daran teilhatten.

Es kann sich anfühlen, als würde jemand Gift in unsere wertvollen Kindheitserinnerungen schütten. Als würde uns jemand das Licht nehmen, das uns durch Dunkelheiten getragen hat. Wir möchten das beschützen, wir möchten uns und unsere Unschuld beschützen.

Entsprechend kann die Auseinandersetzung mit diesen Themen zu großer emotionaler Bedrängnis führen. Und die wiederum führt oft dazu, dass man nicht gut mit der Situation umgehen kann. Dass man z. B. denen, die von der Gewalt betroffen sind, nicht zuhören möchte. Kritik nicht annehmen kann. Sich verteidigt. Das Geliebte und Gewohnte verteidigt.

Aus emotionaler Bedrängnis werden alle möglichen Gefühle. Wut, Ekel, Hass, Angst, Hilflosigkeit. Und wohin mit diesen Gefühlen? Manchmal scheint es, man hätte zwei Möglichkeiten. Ich kann mich als die Schuldige annehmen, mich selbst hassen, mich schämen oder mich vor mir ekeln. Und natürlich Besserung geloben, die mir nicht immer gelingt. Oder ich kann mich als Unschuldige sehen und meine ganzen negativen Gefühle gegen die richten, die mich auf gewaltvolle Verhaltensweisen hinweisen. Weil die doch irgendwie Gift und Galle in mein Leben spülen und sonst alles gut wäre.

Neben Geschichten aus Kinderbüchern gibt es eine ganze Menge anderer Themen, denen ich nicht aus dem Weg gehen kann. Kaufe ich etwa Kaffee und Kleidung, hängt daran eine ganze Menge potentielle Ausbeutung, der ich mit Fairtradesiegeln auch nur bedingt aus dem Weg gehen kann. Hier sind es nicht meine kindlichen Gefühle, die mir Probleme machen, sondern die gefühlte Unausweichlichkeit. Überall werden mir Produkte angeboten, die mehr oder weniger problematisch und nur sehr selten gar nicht problematisch sind. Mit jedem Kauf, das heißt, mit der Befriedigung meiner normalen, alltäglichen Bedürfnissen, unterstütze ich irgendwo auf der Welt ein gewaltvolles Tun.

Ich will mich nicht permanent schuldig fühlen. Nicht permanent das Gefühl haben, etwas falsch zu machen, nur weil ich in dieser Welt existiere und eben menschliche Bedürfnisse habe. Das ist ein echt fieses Gefühl.

Und vielleicht manchmal ein notwendiges, weil es doch deutlich macht, dass sich etwas ändern muss. Aber ich glaube, wir brauchen diese Schuldaufladung gar nicht. Wir brauchen keine Selbstgeißelung. Was wir brauchen, ist eine konstruktive Richtung für die ganzen negativen Gefühle.

Dafür muss ich erst einmal anerkennen, dass es dieses gewaltvolle System um mich herum gibt, dem ich nicht entfliehen kann. Und dann kann ich darauf wütend werden. Dann kann ich das Zusammenspiel der gesellschaftlichen Kräfte betrachten und das verändern wollen, ohne auf meiner persönlichen Schuldfrage rumzureiten. Und ich kann traurig darüber sein, was das System mir angetan hat, ohne zu verharmlosen, was ich bereits zu diesem System beigetragen habe. Trauer ist ein wichtiger Teil dieses Prozesses, der oft unterschätzt wird. Glaube ich zumindest. Trauer um geliebte Kindheitsgeschichten. Trauer in der Erkenntnis, was vorangegangene Generationen verbockt haben. Trauer darum, das mir so viele -ismen in mein Weltbild gepflanzt wurden. Ohne diese Trauer bleibe ich auf meiner Wut hängen, die sich destruktiv in Verteidigungshaltung und Angriff gegen die Falschen richtet.

Aus verschiedenen Gründen fällt es mir schwer, diesen Text öffentlich zu machen. Das eine ist, dass es generell unschön ist, über Gewalt zu reden und mir bewusst ist, dass viele einen anderen Gewaltbegriff haben als ich. Wenn ich in diesem Text von Opfern und Täter*innen schreibe, dann fürchte ich gleich schon sehr unschöne negative Reaktionen bei den Lesenden. Es rührt an Gefühle, die man eigentlich nicht will. Es ist so ein hässliches Thema.

Das andere ist, dass ich eher aus einer privilegierten Position heraus schreibe und nicht möchte, dass mein Text als Abweisung persönlicher Schuld, als Absolution für eigene Fehler verstanden wird. Ich bin immer verantwortlich für mein Tun. Aber ich versuche es im Kontext der ganzen Zwänge um mich herum zu sehen und nicht an den Stellen hart mit mir zu sein, wo ich mich eigentlich ausgeliefert und gar nicht in der Lage zu Veränderung sehe.

Ich glaube, dass es notwendig ist, einen Blick darauf zu werfen, warum es aus privilegierter Position heraus oft nicht klappt, sich „einfach“ zu verändern, „einfach“ weniger gewaltvoll zu sein. Warum es oft schon daran scheitert, das zu verstehen, was einem von marginalisierten Gruppen gesagt wird.

Zum Abschluss ein kleiner, positiver Gedanke, auch, weil es so oft Diskussionspunkt ist: Sprache.

Anders als bei den Produktionsketten von Supermarktprodukten habe ich eine ziemlich große Macht über eigene Sprachgewohnheiten. Egal, um welches Feld von Diskriminierung es geht: Sprache ist oft erstaunlich eindrücklich in ihrer Art, Gewalt und Abwertung zu vermitteln oder dies eben nicht zu tun. Und aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sich mit meiner Sprache auch meine Gedankenwelt ändert und dass es weit mehr ist als nur oberflächliche „Politur“. Sprache ist Denken.

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