Ich kann euch gar nicht sagen, wie oft ich vor dem geöffneten, leeren Dokument an meinem Rechner saß. Wie oft ich versucht habe, etwas zu schreiben. Wie oft ich nicht über eine halbe Seite hinausgekommen bin.
Ich habe schon immer geschrieben und ich habe auch immer schon die Rückmeldung bekommen, dass ich „gut“ schreibe, z. B. bei den Reizwort-Aufsätzen in der Grundschule. Ich hatte auch immer schon Lust dazu.
Aber dann ging es eben trotzdem nicht. Dann blieb es bei dem Romananfang, eine kurze Szene, in der eine Protagonistin eingeführt wird. Mit etwa 14 schrieb ich eine Geschichte, die etwa 20 Seiten lang wurde. (Von Normseiten hatte ich damals noch nichts gehört. Es wird wohl Times New Roman, Schriftgröße 12, ohne nennenswerten Zeilenabstand gewesen sein.)
Diese Geschichte fiel einem Festplattencrash zum Opfer. Hätte ich damals mehr Selbstbewusstsein gehabt, hätte ich darauf bestanden, die Festplatte zum Experten zu bringen, in der Hoffnung, diese eine Geschichte retten zu können. Ich hatte sie nur für mich geschrieben und ich bedaure immer noch, dass sie unwiederbringlich verloren ist. Sie spielte in einer Traumwelt, in der alles verschwommen und schwarzweißgrau war. In der sich zwei Menschen begegneten und redeten.
Im Gegensatz zu meinen versuchten Romananfängen gab es dafür kein Vorbild. Es war keine Anlehnung an etwas, das ich gelesen hatte. Es war viel eher so, dass ich mich ein wenig schämte. Weil es keine Handlung gab, nicht einmal eine richtige Welt. Eigentlich nur zwei Stimmen.
Es ging in dieser Geschichte um Geborgenheit. Um Gehaltenwerden. Auch dafür schämte ich mich. So viel offene Emotionalität, Bedürftigkeit, Wünschen. Ich hätte die Geschichte niemandem gezeigt. Sie war für mich.
Ich betone das hier, weil alles, was ich zu Papier brachte oder nicht mit Scham zu tun hat. Aber dazu später mehr.
Ich gab die Romananfänge irgendwann auf. Überhaupt schrieb ich lange Zeit ziemlich wenig. Im Studium saß ich dann irgendwann am Tisch einer Pen&Paper-Runde. Ein Freund hatte mich mitgenommen, nachdem er mir ein Semester lang davon vorgeschwärmt hatte. Die Runde hatte ein Spielverhalten, das zu mir passte: Es wurde viel Wert auf Ambiente gelegt. Emotionen durften ausgespielt werden und wurden von der Runde gemeinsam getragen. Wir bastelten über einige Jahre konstant an Welt und Regeln. Es war eine Art zu Hause für mich.
Wenn ich das hier nochmal so aufführe, dann merke ich, auf wie vielen Ebenen mich diese Zeit geprägt hat. Auf der Ebene von Weltenbau hat es mich angeregt, neue Dinge zu denken. Wir begannen mit einer tolkienesken Welt mit Elfen, Zwergen, Orks. Wir landeten in einer postapokalyptischen Welt voller technisierter Magie.
Ich wurde über die Jahre mutiger mit meinen Charakteren. Spielte ich anfangs noch, was ich auch in der echten Welt spielte – die starke Frau mit jeder Menge Mitgefühl und zwei Schwertern in den Händen – so spielte ich zuletzt eine seltsam-naive Frau mit Mangel an sozialer Kompetenz oder einen Trickmagier, hinter dessen Fassade sich bloß ein ängstlicher Teenager und ein Dämon befanden.
Es war diese Möglichkeit, meine Fantasie „einfach so“ nach außen zu bringen, ohne Angst oder Scham, die den Grundstein für mein Schreiben und damit auch meinen Debütroman legte. Ich war im Urlaub und mit unserer Rollenspielwelt beschäftigt. Ich schrieb einen kurzen Abriss über die Historie eines unserer Länder. Und da, einfach so, war meine Romanidee. Ich betrachtete die knappen zwei Seiten, die ich geschrieben hatte, und dann tauchte ich ein und schrieb aus dem Nichts die ersten 70 Seiten.
Und dann ging es nicht weiter. Oder zumindest kaum noch. Oder nur noch mühevoll. Es wollte nicht klappen. Wieder Angst, dass das, was so gut angefangen hat, durch jedes weitere Wort an Qualität verlieren würde. Dass ich aus diesem wunderbaren Anfang nichts machen können würde. Dass ich scheitern würde. Das war 2012/2013.
Verschiedene Dinge passierten in den folgenden Jahren. Ich las zwei Bücher: „Der Weg des Künstlers“ von Julia Cameron ist ein 12wöchiger Kurs, der einen in Kontakt mit der eigenen Kreativität bringen soll und Hemmungen, Blockaden abbauen. Ein zentraler Baustein des Kurses sind sogenannte „Morgenseiten“. Sich morgens, gleich nach dem Aufstehen, hinsetzen und unzensiert alle Gedanken aufs Papier bringen. Nicht nachdenken, nur schreiben, selbst wenn nichts anderes kommt als: „Ich bin zu müde, mir fällt nichts ein, Morgenseiten sind kacke.“ Ich bin kein Morgenmensch und manchmal wundere ich mich, dass ich das tatsächlich hinbekommen habe. Aber es half, einen Fluss herzustellen, statt blockiert zu sein.
Dazu gibt es jede Woche Übungen, die sich mit falschen Vorstellungen über Kreativität und eigenen Blockaden sowie mit eigenen Wünschen befassen. An eine Übung erinnere ich mich besonders gut. Die Frage war (sinngemäß): Wenn du in deiner Kindheit alles bekommen hättest, was du brauchtest, jede Form von Liebe, Halt, Zuspruch etc., wo wärest du dann jetzt im Leben?
Meine ganz spontane, innere Antwort dazu: Ich hätte ein Philosophiestudium abgebrochen und bereits mein erstes Buch veröffentlicht.
Was mir diese Antwort sagte: Würde ich mich im Leben wirklich sicher fühlen, dann hätte ich nicht den konstanten Leistungsdruck, der mich so durch die Welt begleitet und mir so viele Zwänge auferlegt. Und ich hätte genug Selbstbewusstsein, das zu tun, was ich wirklich will, nämlich schreiben. Es war wichtig für mich, diese Erkenntnis, dass das Schreiben diesen Stellenwert für mich hat. Und dass ich den Weg bisher nicht wirklich verfolgt hatte, weil etwas in mir sagt, dass ich es nicht darf, nicht kann, nicht sollte.
Das zweite Buch, das ich gelesen habe, war „Einfach Erzählen!“ von Christel Oehlmann. Dieses Buch pflanzte das Bild einer lebendigen Quelle der Kreativität in meinen Kopf. Ein sprudelnder Brunnen, grenzenlos und unendlich. Kreative Knappheit eine Unmöglichkeit. Ich müsste nur den Zugang zu diesem Brunnen finden. Das Bild ging Hand in Hand mit den Morgenseiten. Mit der Möglichkeit, mich für alles zu öffnen, was mein Kopf so produziert, ohne immer gleich zu bewerten.
Und da sind wir wieder bei dem Thema Scham: Alles, was mich wirklich tief in meinem Innern bewegt, löst bei mir erstmal Scham aus. Da kommen ja jetzt nicht nur harmlose Gutwetter-Themen hoch. Es macht mich verletzlich, jemandem einen meiner Texte zu zeigen. Besonders dann, wenn ich über das schreibe, was nicht alltäglich, was nicht sowieso schon klar ist. Gerade da, wo es irgendwo um eigene Verletzungen geht. Wo man über die düsteren Dinge schreibt, über das, was einen plagt. Oder über das, was einen mit Begeisterung und Lust erfüllt. Wo man Ablehnung schwer erträgt.
Ein Abend in dieser Zeit mit einer Freundin. Nach einer Flasche Rotwein oder mitten während der zweiten. Gespräche darüber, wie sehr uns das Rollenspiel fehlt. Was sonst so in unseren Köpfen rumfleucht. Und die Erkenntnis, dass wir beide einen Faible dafür haben, uns Geschichten auszudenken, über deren Inhalt ich euch jetzt im Unklaren lassen, weil ich den Artikel sonst nicht hochlade. (Hallo Scham. Da biste ja.)
Jedenfalls haben wir danach gemeinsam an die 900 Seiten Geschichte geschrieben. Und es war toll. Anfangs gehemmt, aber irgendwann landeten einfach unsere Gedanken im Dokument. Unzensiert. Ich hatte noch nie in meinem Leben so viel Elan zum Schreiben gehabt. Weil da etwas sein durfte, das sonst im Leben nie Platz hatte. Wir schrieben uns gemeinsam durch emotionale Höhen und Tiefen. Wir schrieben pragmatisch, ohne den Gedanken, dass Außenstehende irgendwas verstehen müssten. Es war ja nicht zur Veröffentlichung. Sondern für uns.
Ich denke, es ist kein Zufall, dass sich hier ein Muster wiederholt, das ich oben schon zu meiner ersten richtigen Geschichte benannt habe. Ich schrieb beides, ohne mir den Blick von außen vorzustellen. Ich schrieb durch meine Scham hindurch, offen und ehrlich. Einmal allein, einmal in die wohlwollenden Hände meiner Freundin.
Parallel, das möchte ich kurz einfügen, geschah noch etwas anderes: Ich nahm an kleinen Schreibwettbewerben auf deviantArt teil. Dafür schrieb ich kurze Texte in ganz unterschiedlichen Formaten (Kurzgeschichten, Gedichte, Bühnendialog…). Statt den gewünschten Roman brachte ich also andere tolle Dinge zustande. Ich lernte dabei, dass ich tatsächlich schreiben KANN, selbst Dinge, die mir erstmal schwer fallen. Und außerdem lernte ich, dass ich wirklich Arbeit in die Texte stecken muss und mehr tun als einfach nur „runterschreiben“, wenn sie gut werden sollen.
Ich habe durch diese kleinen Wettbewerbe und durch die 900 Seiten pragmatisches Schreiben so viel an neuen Schreibfertigkeiten gewonnen! Übung ist erstaunlich hilfreich. Mittlerweile habe ich keine Angst mehr davor, ein halbes Buch „wegzuwerfen“ um es neu zu schreiben, weil das Schreiben selbst nicht mehr so anstrengend ist.
Und dann saß ich also da, auf 900 Seiten Übung, einigen Kurztexten und den 70 Seiten Romananfang. Zwei Dinge hatten meinen Roman blockiert:
1. Eine unstimmige Erzählperspektive. Das ist der Teil, wo die Übung darin, an Texten auch wirklich zu arbeiten, sehr geholfen hat. Die Veränderungen und die damit verbundene Arbeit erschreckte mich nicht mehr.
2. Die notwendige Emotionalität meiner Charaktere, ohne die die Handlung weder Sinn machen noch voranschreiten konnte.
Das zweite Problem ist ein andauerndes. Ich schäme mich noch immer für alles, was ich schreibe. Ich schäme mich für die blanken Emotionen, die ich meine Charaktere erleben lasse. Ich schäme mich für ihre Menschlichkeit, ihre Verletzlichkeit. Ihr könnt von außen ja nicht sehen, wo sie mir ähnlich sind und wo nicht, und das ist auch der einzige Grund, warum ihr sie irgendwann lesen dürft. Schreibhandwerk bedeutet auch, genug „Maske“ in den Text bringen zu können, dass ihr den Ursprung nicht mehr erkennen könnt. Trotzdem werdet ihr eine Menge über mich in Erfahrung bringen können, wenn ihr meine Texte lest.
Tja, so ist das. Kein Text von mir ohne eine gehörige Portion „ich“ drin. Anders haben die Texte keine Bedeutung für mich. Anders habe ich keinen Elan für das Schreiben, keinen Bezug zum inneren Brunnen, der permanent meine tief vergraben geglaubten Themen nach oben spült.
Wusstet ihr, dass man Scham in etwa wie folgt definieren kann: Die Angst, sozial abgelehnt und ausgeschlossen zu werden, weil man als Person schlecht/nicht gut genug/nicht wertvoll genug ist. (siehe dazu: Brené Browns Ted Talk: „Listening to Shame“)
Bin ich als Person ok? Mit meinen ganzen inneren Tiefen? Mit den düsteren und hellen Seiten? Mit allem davon? Darf ich episch-kitschig schreiben? Gewaltvoll-eklig? Über Liebe? Über Selbstmitleid? Darf ich blumige Bilder benutzen? Brutal direkt sein? Was kann ich den Lesenden zumuten? Wofür werde ich vielleicht verlacht, angegriffen? Oder was von all dem wird mal wertgeschätzt? Wo knüpfen vielleicht Menschen an? Wo fühlt sich jemand verstanden durch meine Worte?
Was mich beruhigt: Meine Lieblingsbücher haben sehr viel von dem, wofür ich mich in meinen eigenen Geschichten schäme. Andere haben den Schritt gemacht, sich mit genau diesen Dingen zu zeigen. Und ich liebe meine Lieblingsbücher genau dafür. Nicht trotzdem, sondern deswegen. Weil sie mir erlauben, mich angenommen und geborgen zu fühlen, weniger allein.
Mein größter Wunsch für meine Geschichten ist, dass andere sich damit genau so fühlen können. Und deswegen zeige ich das, was schamvoll ist, am Ende sogar gerne. Weil da doch etwas wunderbares passiert, wo Scham auf Gegenliebe stößt.
Ein Gruß an alle, die ebenfalls ihr Herzblut in ihre Geschichten gießen.