Über Intelligenz reden

Intelligenz ist ein Thema, über das man nicht sprechen kann, ohne dass es irgendwie seltsam wird. Vor allem wird es sehr schnell ableistisch. Mein Blick darauf ist nochmal speziell, weil ich viele Menschen kenne, die entweder eine sehr hohe oder sehr niedrige Intelligenz haben (die „Hochbegabten“ oder „Menschen mit geistiger Behinderung“; auffällig ist schon hier, dass ich nicht „Mensch mit Hochbegabung“ schreiben muss und dass beide Begriffe eine höchst unterschiedliche Wertigkeit zu haben scheinen).

Mit der Definition von Intelligenz möchte ich mich an dieser Stelle nicht lange aufhalten. Darüber kann man jahrzehntelang forschen und diskutieren. Es gehören sehr viele verschiedene Dinge dazu, ein globaler Wert wie der IQ macht daher nur ziemlich eingeschränkt irgendeinen Sinn, und trotzdem haben wir schnell eine Vorstellung davon, was wir unseren Mitmenschen in Hinblick auf ihre Intelligenz zutrauen können. (Und ja, damit können wir massiv falsch liegen, s. später im Artikel.)

Kurzum: Ich benutze den Begriff der Intelligenz in diesem Artikel schlicht so, wie man es umgangssprachlich tut, als ein schwammiges, schwer zu definierendes Konstrukt, unter dem wir uns trotzdem etwas vorstellen können. Ich rede auch von kognitiven Fähigkeiten, was nochmal etwas weiter gefasst ist. Wo ich etwas spezifischeres meine, nenne ich das spezifischere.

Die meisten von uns brauchen auch keinen Intelligenztest, um zu wissen, wo wir so etwa im Vergleich mit anderen stehen. Mit dieser Einschätzung unserer eigenen Intelligenz liegen wir oft ziemlich richtig (Quelle: Vorlesung Studium, konkreter erinnere ich es nicht), können aber teils auch gravierend falsch liegen.

Ich benutze im Artikel vor allem die Begrifflichkeiten von hoher bzw. niedriger Intelligenz oder von weniger/mehr oder wenig/viel Intelligenz, weil ich diese als vergleichsweise neutral empfinde. Die Begriffe „klug“ und „dumm“ kommen ebenfalls vor, wo es im Kontext passender erschien. Ich wiederhole keine beleidigenden Umschreibungen, benenne aber durchaus beleidigende Denkweisen. Wenn ich von Menschen mit geistiger Behinderung schreibe, dann meine ich die Menschen, die hier in Deutschland eine solche Diagnose erhalten haben.

Ich schreibe diesen Artikel, weil ich wichtig finde, über Intelligenz sprechen zu können, ohne von ableistischen Bewertungen erschlagen zu werden. Es gibt einen zweiten Teil, der sich mit Schwierigkeiten befasst, die Menschen aufgrund ihrer Intelligenz in unserer Welt haben können. Diesen findet ihr hier: Probleme und Intelligenz

Punkt 1: Intelligenz darf kein Wert-Merkmal einer Person sein.

In unserer aktuellen Welt wird den kognitiven Fähigkeiten von Menschen enorm viel Wert beigemessen. Spätestens in der Schule (aber oft schon früher) werden Kinder danach beurteilt, wie schnell oder gut sie schreiben lernen, wie groß der Wortschatz ist, wie weit sie zählen können und vieles ähnliche. Diese Wertigkeit überträgt sich auch auf Aktivitäten: Bücher lesen „bildet“, Fernsehen „verdummt“. Das eine ist also wünschenswert, das andere nicht. Niemand will dumm sein, es löst Scham aus, die von den Mitmenschen auch immer wieder bestätigt wird.

Und ich meine an dieser Stelle nicht, dass die Fähigkeiten und Freizeitbeschäftigungen von Kindern beurteilt werden, damit man ihnen etwa die richtigen Hilfen und Hobbys anbieten könnte. Nein. Die Kinder selbst werden beurteilt. Später dann auch sortiert. Lebenswege werden am Gobalurteil der Intelligenz vorbereitet und geplant. Und das alles immer mit der Botschaft, dass es besser ist, klüger zu sein. Besser auf dem Gymnasium als der Hauptschule. Besser nicht die Person sein, die im Unterricht die „dummen Fragen“ stellt. Manchmal wird es so dargestellt, als wäre es eine Entscheidung, die eine Person treffen könnte. „Streng dich mehr an, dann lernst du das auch“, stimmt nur für einige Kinder. Selbstwert baut sich unter anderem daran auf, wie die Noten auf dem Zeugnis aussehen. Und alle wissen, dass die Mathe-1 mehr wert ist als die Kunst-1. Und neben dem Selbstwert häufig auch, welchen Wert einem andere Menschen zuweisen.

Wenn ich darüber spreche, dass man Menschen nicht aufgrund von Intelligenz bewerten sollte, kommen oft Kommentare zurück, dass „alle Menschen intelligent sind“, eben „auf ihre Weise“. Alle Menschen hätten Stärken, grundsätzlich. Ich habe Schwierigkeiten mit dieser Argumentation, weil es immer noch ein Narrativ trägt von: „Menschen müssen etwas können, damit sie in Ordnung sind.“ und „Wir können über die fehlende Intelligenz hinweg sehen, weil diese Menschen andere Qualitäten haben.“ Es ist eine demonstrative Nicht-Abwertung, die in Wirklichkeit Lebensrealitäten von Betroffenen verkennt.

Ich will damit nicht sagen, dass nicht alle Menschen irgendwelche Stärken haben. Ich kenne z. B. eine Person, die sehr wenig kann, aber gelernt hat, über Luftanhalten zu kommunizieren, dass sie etwas braucht. Das ist für die Situation dieser Person eine echt coole Fähigkeit, die den Umgang miteinander sehr erleichtert. Also ja, ich stimme sofort zu, dass Menschen in dem Sinne intelligent sind, dass sie aus ihren eigenen Möglichkeiten irgendwas machen. Aber ich lehne es trotzdem als Argument ab, wenn es bloß notwendige Gespräche über Intelligenz unterbinden soll.

Solange wir Intelligenz als Maß dafür nehmen, was wir von Menschen halten – ob nun im positiven oder negativen – haben wir immer auch das Problem, dass die tatsächliche Intelligenz nicht benannt werden darf. Schon gar nicht, wenn sie dem widerspricht, was wir von einer Person halten wollen. Dieses Nicht-Benennen-Können ist aber grundsätzlich ein Nährboden für die Verschlimmerung von Problemen, für Scham und Selbstzweifel, für fehlende Hilfe und fehlendes Verständnis. Es bleibt im Kontakt eine Unsicherheit, ein „Was, wenn sie rausfinden, dass ich nicht … bin?“

Es bleiben Kinder, die die Enttäuschung ihrer Eltern und Lehrenden spüren, die aber nicht offen ausgesprochen werden darf. Es bleibt die Person, die mit einer neuen beruflichen Aufgabe überfordert ist, aber das nicht sagen darf. Oder die Freundschaft, die zerbricht, weil plötzlich ein Intelligenzunterschied sichtbar geworden ist.

Wir müssen über diese Dinge sprechen können, ohne Menschen zu bewerten!

Punkt 2: Beleidigungen, die auf kognitive Fähigkeiten abzielen, sind immer kacke, ableistisch und schädlich.

Das schließt sich direkt an den ersten Punkt an. Weil Intelligenz so direkt mit Wertigkeit verknüpft wird, wird sie auch besonders gerne für Beleidigungen genutzt. Es gibt sie in brachial direkt, eloquent verschachtelt, „humorvoll“, fäkal, gesungen, gedichtet…

Das Ziel ist immer das Gleiche.

Und es ist immer kacke.

Es zementiert, was ich unter Punkt 1 geschrieben habe: Intelligenz als Globalurteil, das in Wirklichkeit meint, was wir von einer Person halten. Eine Verknüpfung z. B. von Intelligenz und Moral. Und eine Wiederholung der Idee, dass nur kluge Menschen gut sind.

Spricht man Leute darauf an, dass Menschen mit geistiger Behinderung solche Begriffe ständig hören müssen, auf sich bezogen, und dass sie einfach immer wieder erleben, dass sie selbst zum Sinnbild von schlecht und ablehnungswürdig genommen werden, kommt meistens etwas zurück wie: „Aber solche Menschen meinte ich ja gar nicht. Und wenn du denkst, dass diese Menschen dumm sind, bist du ableistisch.“

Mich ärgert daran am meisten, dass es völlig irrelevant ist, was ich denke oder meine, ob ich selbst ableistische Dinge denke (ja, tue ich, tun wir alle). Es kommt darauf an, was die Lebensrealität der Menschen ist, die es betrifft.

Zu Schulzeiten fuhr ich mal mit einer Person mit geistiger Behinderung Bus. Sie wurde von Schülern aus meiner Klasse mit Blondinen-Witzen bombardiert, dabei der Name dieser Person eingefügt. Ich war in diesem Alter nicht in der Lage, etwas zu unternehmen, und wenn ich mich an diese Situation zurückerinnere, dann wird mir immer noch schlecht. Dann fühle ich immer noch die Hilflosigkeit von damals, die unfassbare, gelähmte Wut. Gefühle, die ich als Beobachterin empfunden habe. Wie muss es der Person selbst gegangen sein?

Glaubt ihr, dass solche Situationen Ausnahmen sind? Glaubt ihr, dass solche Situationen aufhören, indem irgendwo jemand sagt: „Aber die meine ich ja gar nicht, wenn ich ‚dumm‘ sage.“

Und mal ganz davon abgesehen hört man häufig genug Beleidigungen wie „Die sind doch alle geistig behindert“, und damit sind dann Politiker*innen oder Nazis oder sonstwer gemeint. Spätestens da ist es schwer zu argumentieren, dass man „die doch nicht meint“, wenn man wörtlich den Behinderungsbegriff benutzt.

Lasst es einfach. Jegliche Abwertungen aufgrund von Intelligenz sollten einfach gestrichen werden.

Auch Sätze wie „Für mich ist jemand dumm, der dummes tut“ sind keine Lösung. Und zwar in erster Linie, weil damit meistens auch wieder Politiker*innen und Nazis gemeint sind und nicht Menschen, die z. B. wegen fehlendem Verständnis die Kaffeemaschine ohne Wasser und Kaffeepulver anschalten und trotzdem auf Kaffee hoffen.

Habt ihr den Eindruck, dass die letzte Aussage eine Abwertung von Menschen sein könnte? Es war im Übrigen nur die Beschreibung einer Handlung, die tatsächlich vorkommt, wenn man nicht versteht, wie eine Kaffeemaschine funktioniert. Ich kenne Menschen, die nicht verstehen, wie eine Kaffeemaschine funktioniert.

An dieser Stelle möchte ich gern auch noch den Mythos entkräften, dass alle Menschen alles lernen könnten, wenn man es nur langsam oder gut genug erklärt. Es stimmt nicht, und es ist im Übrigen auch nicht notwendig. Es ist in Ordnung, wenn Menschen Dinge nicht können.

Punkt 3: Vorsicht mit der Einschätzung von Intelligenz!

Zunächst mal: Es ist grundsätzlich nichts schlechtes, dass wir versuchen, die Intelligenz unserer Mitmenschen in etwa einzuschätzen. Das hilft, z. B. unsere Kommunikation aufeinander abzustimmen und kann Missverständnissen vorbeugen. Ich erlebe immer wieder, wie erleichternd es sein kann, wenn es gut funktioniert. Beispielsweise weil jemand merkt, dass die Antwort auf eine Frage nicht verstanden wurde und nochmal nachhakt.

Problematisch ist aber, dass wir dabei oft falsch liegen und das häufig in einer systematischen Weise. Das führt dann dazu, dass bestimmte Menschen immer wieder mit der gleichen falschen Einschätzung zu tun haben, die sogar gravierende Auswirkungen auf das gesamte Leben haben kann. Hier einige gängige Fehler bei solchen Einschätzungen (kein Anspruch auf Vollständigkeit!):

Einschätzung anhand von sprachlichen und schriftsprachlichen Fähigkeiten

Sprache ist oft eins der ersten Dinge, die wir von Menschen mitbekommen. Und sie ist durchaus gar kein so schlechter „Marker“ und wir nutzen sie intuitiv daher auch furchtbar schnell, um die Intelligenz von Leuten einzuschätzen. Aber dabei gibt es einige Probleme, die wir mitdenken müssen:

Das Sprachvermögen kann durch völlig andere Dinge eingeschränkt oder verlangsamt sein (z. B. Stottern, Sprechen in einer Fremdsprache, Schüchternheit, Mutismus…). Problematisch ist hier nicht die einmalige Fehleinschätzung durch irgendjemanden, sondern dass diese Fehleinschätzung ggf. immer und immer wieder passiert, damit auch das Selbstbild von Personen beeinflussen kann. Vielleicht wird auch die Meinung von Lehrenden derart beeinflusst, dass eine objektive Notengebung nicht mehr stattfinden kann, oder die Meinung von Vorgesetzten so, dass Beförderungen ausbleiben. Und so weiter. Ähnliches gilt für Rechtschreibung und Grammatik im Schriftlichen. (In den sozialen Medien ist es ja Gang und Gäbe, sich über Rechtschreibfehler von Leuten lustig zu machen. Ist kacke, s. Punkt 1.)

Das Sprachvermögen kann aber auch im Vergleich zu anderen Fähigkeiten besonders gut ausgeprägt sein, sodass Menschen überschätzt und damit auch häufiger überfordert werden. Ich kenne eine Person, die häufig Ärger auf sich zieht, weil sie sich nicht an gemachte Absprachen gehalten hat. Dabei handelt es sich häufig um zeitliche Absprachen. Sie kann die Uhr nicht lesen und Zeiträume nur schlecht einschätzen. Könnte sie sagen, dass sie das nicht kann? Vielleicht. Aber diese Person hat bestimmte Taktiken entwickelt, um nicht immer wieder zugeben zu müssen, nicht so intelligent zu sein. Eine dieser Taktiken ist es, mit „ja gut“ zu antworten, wenn Leute einen Vorschlag machen. (Mehr zu solchen Taktiken im zweiten Artikel.)

In der Schule hat eine Person, die gute Hausaufgaben vorlegt, vielleicht immer wieder mit der Forderung zu tun, das doch auch mal mündlich zu zeigen. „So viel Potential.“ Aber vielleicht kann diese Person nur gut über etwas nachdenken, wenn sie dazu Zeit und Ruhe hat. Dann hört sie vielleicht sogar, dass Lehrende sich für die schlechtere mögliche Note entschieden haben, um sie zu motivieren, sich im Unterricht mehr zu beteiligen. Was für ein unnötiger Druck!

Einschätzung aufgrund von körperlichen Behinderungen

Bei vielen Menschen scheint ein „Behinderung=Behinderung“ im Kopf zu bestehen, sodass Menschen mit sichtbaren körperlichen Behinderungen als weniger intelligent eingeschätzt werden bzw. teils automatisch eine geistige Behinderung angenommen wird. Das können bereits Kleinigkeiten wie eine Lähmung eines kleinen Gesichtsteils oder ein leicht unsicheres Gangbild sein. Von Menschen, die einen Rollstuhl nutzen, habe ich wiederholt gehört, dass Leute gar nicht erst mit ihnen sprechen, sondern mit der vermeintlichen Begleitperson neben dem Rollstuhl.

(Ich fasse diesen Absatz kurz, weil es dazu viele Beschreibungen von betroffenen Personen selbst gibt.)

Einschätzung aufgrund von weiteren Vorurteilen

Es gibt zudem noch einen Haufen anderer Dinge, die Leute mit bestimmten Ausprägungen von Intelligenz assoziieren, z. B. gibt es rassistische, sexistische und klassistische Vorurteile zu Intelligenz. Hier einige Beispiele für entsprechende Assoziationen:

Hartz4 bekommen, Schlager hören, aufwendige Fingernägel, alt sein, religiös sein, Fußballfan sein, optische Attraktivität (bei Frauen), Klatschzeitschriften, Solarium, Ballermann.

Schach spielen, Physik mögen, lesen, optische Attraktivität (bei Männern; ja, gibt Studien dazu), beruflicher Erfolg, klassische Musik, teure Kleidung.

Das heißt im Endeffekt: Wir sehen einen Menschen und machen schon eine Einschätzung über die Intelligenz. Wir hören drei Sätze, die die Person spricht, und verfestigen, was wir denken. Wir lernen einen Fakt über ein Hobby oder eine Vorliebe, und hören zu diesem Zeitpunkt schon nur noch, was unseren Eindruck bestätigt. (Das ist nämlich noch so ein Ding, dass es für viele gar nicht so leicht ist, den berühmten „ersten Eindruck“ zu überwinden, wenn er falsch war.)

An dieser stelle möchte ich auch noch auf den Begriff „stereotype threat“ hinweisen (Übersetzung vielleicht in etwa „Bedrohung durch Stereotyp“). Das ist ein sozialpsychologisches Konstrukt und beschreibt das Phänomen, dass Menschen, die sich unter Druck fühlen, einem negativen Stereotyp zu widersprechen, in entsprechenden Leistungstests schlechter abschneiden als ohne diesen Druck. Ein Alltagsbeispiel kann eine Person sein, die beim Einparken in einer engen Parklücke von einer Gruppe Männer beobachtet wird und den Eindruck hat, nun auf keinen Fall das Klischee „Frauen können nicht einparken“ bestätigen zu dürfen. Der damit verbundenen Stress macht ein Scheitern wahrscheinlicher.

In Studien nachgewiesen wurden entsprechende Effekte auf die Leistung in Intelligenztests oder ähnlichen Leistungstests (z. B. Matheaufgaben), sowohl für Effekte von Sexismus als auch Rassismus. (Vielleicht auch für vieles mehr, ich beziehe mich nur auf Dinge, die ich im Studium dazu gehört habe.)

Fazit:

Lasst uns versuchen, offen und vorurteilsfrei darüber zu sprechen, dass nicht alle Menschen klug sind.

Lasst ableistische Beleidigungen sein.

Seid euch bewusst über Fehleinschätzungen, die wirklich sehr alltäglich sind.

Wer weiter zum Thema lesen möchte: Probleme und Intelligenz

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