Die Legende von Estorin

Inhaltswarnungen:
Böse Magie, Tod, Verzweiflung, Unterdrückung,
Grausamkeit, widersprüchliche “Wahrheiten”

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Die Legende von Estorin, wie sie sich die Sklaven erzählen

Einst lebte in den Dschungeln von Estorin ein wildes, aber friedliches Volk. Die Menschen waren nicht nur in Frieden mit ihren Brüdern und Schwestern, sondern sie achteten auch das Land, die Pflanzen und Tiere, mit und von denen sie lebten.

Eines Tages aber zog ein dunkler, schwerer Nebel über das Land, der die Sonne verdunkelte und die Menschen in Angst versetzte. Drei Tage geschah nichts, während sie sich angesichts der kalten Düsternis um große Feuer scharten und sich gegenseitig Wärme spendeten. Und dann plötzlich lichtete sich der Nebel, doch es war nichts wie vorher.
Menschen, die sich im Nebel verirrt hatten, waren vom Bösen befallen und mordeten ihre eigenen Familien und jeden, der sich ihnen in den Weg stellte. Sie waren zu Bestien geworden, die niemanden mehr erkannten und weder Gnade noch Mitleid zeigten. Es gab keinen anderen Schutz vor ihnen, als sie zu töten, und so mussten gute Menschen schweren Herzens ihre Vertrauten und Geliebten dem Tod überantworten.
Es waren aber auch sechs Kinder von der dämonischen Kraft besessen. Die Älteste von ihnen war gerade sieben Jahre alt und niemand brachte es über sich, ihnen das Leben zu nehmen. Also wurde Rat gehalten und beschlossen, die Kinder der Wildnis auszusetzen. Sollten sie nach zehn Tagen noch am Leben sein, wollte man es als Schicksal hinnehmen und sie aufwachsen lassen.
Es war ein grausamer und unmenschlicher Plan. Die Sechs wurden tief in den Wald geführt und dort allein gelassen. Noch heute beschämt es uns, aber die Hilflosigkeit unserer Vorfahren war groß.

Zehn Tage lang wehrten sich die Kinder gegen die wilden Tiere, die ihnen nach dem Leben trachteten, und keines von ihnen starb. In ihrer eigenen Todesangst fanden sie jedes auf seine eigene Weise die Mächte dieser bösen Kraft in sich. Sie wandelten sich von unschuldigen Kindern zu übermenschlichen Monstern.

Da war Arnora, die Älteste, die mit nur einem Blick den grausigsten Schrecken in jemandem auslösen konnte und so die wilden Tiere in die Flucht schlug.
Dradon wurde unverwundbar und unermesslich stark, sodass jede Kralle und jeder Reißzahn von seiner Haut abprallte und er mit bloßen Händen erlegen konnte, was ihn angriff. Wenn Arnora hungerte, vertrieb sie ihn mit einem Blick von seiner Beute und aß.

Voor, gerade erst fünf Jahre alt, versteckte sich auf einem Baum, und als ihn Hunger und Durst überkamen, entriss er den Kreaturen in seiner Umgebung die Lebenskraft und ernährte sich von ihrer Qual.
Tesch brach in den Geist einer wilden Katze ein und befahl ihr, sie zu beschützen. Am vierten Tag verwandelte sie sich selbst in eine Katze und verschwand im Dschungel, um auf die Jagd zu gehen.
Simek, die zu klein und zu schwach war, etwas auszurichten, war hinterhältig. Sie fand in sich die Fähigkeit, den Hass und Zorn der anderen zu lenken, sodass sie wilde Tiere auf Dradon hetzte oder Streit zwischen ihm und Arnora heraufbeschörte, um alles Essbare zu stehlen.

Und Ler, der Jüngste, war der Mächtigste unter ihnen. Denn er brauchte nur ein Lächeln, damit jemand für ihn opferte, was immer nötig war um ihn zu retten. Und sei es das eigene Leben.

Als sie schließlich lebendig zurück in die Gemeinschaft gebracht wurden, hielten die Menschen ihr Wort, denn sie glaubten, Estorin hätte die Kinder beschützt. Sie nahmen sie wieder auf, trennten sie aber voneinander und bewachten sie, denn sie fürchteten ihre Bosheit noch immer.
Schon bald bereuten sie ihren Entschluss, denn wo immer die Kinder lebten, wurde Blut vergossen. Simek war die schlimmste, die nur aus böser Lust heraus andere gegeneinander aufhetzte. Ler gewöhnte sich an, das Leben derer zu fordern, die ihn verärgert hatten. Und Arnora machte die Albträume der Menschen lebendig, bis sie den Verstand verloren und sich selbst das Leben nahmen.
Voor hatte den Gefallen am Essen verloren und ernährte sich von der Lebenskraft anderer, während er ihr qualvolles Ende mit Genuss beobachtete.

Tesch machte die Menschen zur Beute ihrer Katzenmeute, während Dradon sich zum Herrscher erklärte und jeden im Kampf besiegte, der ihn anzweifelte.

Viel Blut wurde vergossen, und niemandem gelang es, die Sechs zu töten, denn niemand vermochte, ihrer Macht zu widerstehen. So kamen einige zu dem Entschluss, dass sie nichts anderes tun konnten, als sich zu unterwerfen und um Gnade zu bitten.
Dradon war der erste, der den Nutzen darin erkannte und fortan die Menschen für sich kämpfen ließ, die bereit waren, ihm die Treue zu schwören. Aber die anderen fünf folgten bald und banden die Menschen, die es wollten, durch Blut an sich. Von da an mussten sie nur noch zusehen, wie ihre Anhänger in ihrem Namen erbitterte Kämpfe gegen Ihresgleichen führten. Als schließlich jeder Widerstand gegen die Sechs aussichtslos erschien und sich auch der letzte ergab, wurden die, die den Bluteid geschworen hatten, durch das Wohlwollen der Sechs belohnt. Sie durften teilhaben an der Macht der Sechs, die nun die Verlierer, unsere Väter und Mütter, zu Sklaven machten.

Es heißt aber, dass damals das Land vom Blut der Menschen getränkt zum Leben erwachte. Und während Estorin noch heute von den Nachfahren der Sechs beherrscht wird, die mit ihrer schändlichen Magie die Blutzöller an sich binden, opfern wir unser Blut und unser Leben an Estorin. Denn bald wird sich das Land erheben und die unrechtmäßigen Fürsten verjagen.

Die Legende von Estorin, wie sie unsere Fürsten erzählen

Einst lebte in den Dschungeln von Estorin ein primitives, wildes Volk. Wer stark genug war, nahm sich, was er wollte und mordete, wer sich ihm in den Weg stellte. Wer schwach war, griff zu List und Tücke, um seine Brüder und Schwestern zu übervorteilen. Sie hatten grausame Riten und Spiele, die zu nichts gut waren als zu einem bösen Zeitvertreib.

Einmal schickten sie sechs ihrer eigenen Kinder in die Wildnis, denn sie hatten darauf gewettet, welches am längsten Überleben würde. Begierig warteten sie, welches von den wilden Tieren gerissen, welches verdursten oder verhungern würde.

Doch sie ahnten nicht, dass Estorin genug von ihren Spielen hatte. Misstrauisch beobachteten die Menschen, dass nun keins von ihnen sterben wollte, und dass die wilden Tiere sie nicht rissen, sondern ihnen Wärme spendeten und ihre Beute mit ihren teilten. Es dauerte zehn Tage, bis die Kinder den Weg zurück zu den anderen allein bewältigt hatten. Die Menschen waren entsetzt und wollten sie nun erst recht zur Strecke bringen. Aber das Land gab den Sechs die Macht, sich zur Wehr zu setzen gegen die, die sie zum Sterben in die Wildnis geschickt hatten. Sie wurden kräftig und warfen die Bosheit der Menschen auf sie zurück, statt daran zu Grunde zu gehen.

Nur einige erkannten Estorins Wirken in diesem Wunder und beschützten daher die Sechs vor der Niedertracht ihrer Nächsten. Als sie den Sechs ihre Treue schworen, gab das Land auch ihnen Kraft, stärkte nicht nur ihre Körper, sondern auch ihren Geist und Willen. So konnten sie, obwohl es wenige waren, den Kampf gewinnen. Da sie aber die Verlierer nicht töten wollten, obwohl noch immer Gefahr von ihnen ausging, machten sie sie zu Sklaven. Wer aber den Sechs aber den Bluteid geschworen hatte, der wurde reich belohnt und dessen Kinder und Kindeskinder sollten durch die Sechs beschützt werden. Und so ist es auch heute noch, denn dies ist Estorins Wille.