Der initiale Schock

Gewöhnlich schreibe ich Blogartikel über Themen, über die ich schon länger nachgedacht habe. Die sind häufig schon ansatzweise geordnet, wenn ich den Text beginne. Das ist in diesem Fall anders. Der Titel – Schock – ist ein aktueller Zustand, der von sehr viel Wut begleitet ist. Und ich habe entschieden, genau das mitzuteilen. Ihr bekommt das nicht in einigen Monaten gut verdaut und durchdacht. Ihr bekommt es jetzt, rasend und wütend und voller Schmerz.

Inhaltswarnungen: Erfahrungen von Anderssein und Diskriminierung (unspezifisch), Wut, Aussichtslosigkeit

Wenn man wegen angeborener Dinge diskriminiert wird, gehört das so krass zum Alltag, dass man es gar nicht merkt. Schon irgendwie, aber nicht so richtig. Wenn diese angeborenen Dinge dann auch noch unsichtbar und unbekannt sind, weiß man es noch weniger. Es ist ein seltsamer Zustand, in dem man sich immer wieder elend fühlt, ohne zu wissen, warum eigentlich. Man findet Antworten. Aber in aller Regel ist die tiefliegende Antwort, die sich durchsetzt, die man spürt und akzeptiert: Ich bin nicht ok. Es liegt an mir. Ich muss an mir arbeiten. Anders werden.

(Ich schreibe „man“, weil ich diese Erfahrung mit anderen Betroffenen teile. Es bedeutet aber natürlich nicht, dass es grundsätzlich allen so geht.)

Man sucht nach Namen für die Ursache. Man sucht nach Richtungen für das „anders werden“. Und man scheitert immer wieder. Mit jeder Erklärung, mit jedem Änderungsversuch. Bis man irgendwann das findet, was dann tatsächlich wie ein Schlüssel Türen öffnet zu Verständnis für sich selbst und die eigenen Probleme.

Ich bin autistisch. Ich hab ADHS. (Und ich weiß, dass manchmal Verwandte diesen Blog lesen, denen gegenüber ich das nie so offen gesagt habe. Da das große genetische Anteile hat… Eure Sache, was ihr nun mit dieser Information macht.)

Ich habe keine Lust mehr auf verstecken. Keine Lust mehr auf „anders werden“, um besser reinzupassen, und es doch nie zu tun. Ich habe mich seit ca. zwei Jahren damit auseinandergesetzt, was meine Neurodivergenz für meinen Alltag und meine sozialen Beziehungen bedeutet. Ich habe viel über mich gelernt, kann in einigem besser für mich sorgen und in anderem akzeptieren, dass es mir nicht gelingt. Ich habe – wieder – so viel Arbeit in mich selbst und mein Verhalten gesteckt.

Das war nicht der Schock. Das war über weite Strecken gut. Manchmal von Trauer begleitet, von „hätte ich es früher verstanden, dann…“, aber überwiegend war es gut. Es hat mich mir selbst näher gebracht.

Der Schock ist jetzt, wo ich mich mit mir selbst wohl fühle. Wo „Ich bin nicht ok. Es liegt an mir.“ keine Erklärunge mehr ist für die Situationen, die mich elend zurücklassen. Es sind viele kleine Situationen, immer wieder. Und dann gab es im letzten halben Jahr aber auch zwei Situationen, die mich für einige Tage umgeworfen haben. Und wo ich das erste Mal nicht gedacht habe: „Oh, hm, reagiere eben sensibel auf Stress.“ (= Es liegt an mir.) Nein, es taucht auf einmal die Erkenntnis auf: Es liegt an den anderen. Es liegt an ihrer Autismusfeindlichkeit. An der permanenten Erwartung, dass ich mich anpasse, und wenn ich es nicht tue – wenn es mir nicht gelingt, meistens ist es keine absichtliche Entscheidung – wird es bestraft. Leute „bestrafen“ nicht absichtlich. Und auch nicht offensichtlich. Ich werde nicht plötzlich des Raumes verwiesen, weil ich etwas seltsames gesagt habe. Es ist alles viel subtiler. Und die Mechanismen dahinter verdienen viele Gedanken und einen eigenen Blogbeitrag. An dieser Stelle müsst ihr mir schlicht glauben: Ich bin in jeder sozialen Situation, die nicht meine engsten Freunde, wirklich nahe Verwandte oder aber sensibilisierte andere Autist*innen betrifft, feindlichen Verhaltensweisen ausgesetzt. In JEDER.

Und das ist der Schock.

Ich bin überzeugt, dass das nicht autismusspezifisch ist, sondern dass das viele Marginalisierte ähnlich erleben, wenn sie anfangen, sich mit Themen wie Diskriminierung, Mikroaggressionen und ähnlichem auseinanderzusetzen. Wenn es umschlägt von internalisiertem Victim-Blaming („Es liegt an mir.“) und man nicht mehr schönreden kann, was man erlebt und fühlt. Ich bin ziemlich sicher, dass das ein ziemlich universelles Phänomen ist. (Was nicht heißt, dass es individuell alle so erleben. Ich denke nur, es geht vielen so.)

Es gibt viele Orte, wo ich als nichtbinär geoutet bin, wo ich niemandem von Autismus und ADHS erzähle. Weil es das nicht besser machen würde, ehrlich gesagt. Leute wissen so wenig darüber, was Autismus eigentlich ist, dass ich keine hilfreichen Reaktionen erwarte. Allerdings erwarte ich eine krasse Zunahme an feindlichem Verhalten, weil neben dem, was ohnehin schon passiert, nun auch noch Vorurteile da wären. Ich erlebe, wie Leute über Autismus reden, während ich daneben stehe, und es ist in der Regel nichts gut. Und meistens faktisch falsch.

Aber ich kann mich nicht weiter verstecken. Nicht weiter überall masken und hoffen, genug reinzupassen, dass ich nicht ganz so doll fühlen muss, dass ich es eben doch nicht tue. Es geht nicht mehr und will es nicht mehr.

Und jetzt sitze ich hier mit diesen Gedanken, möchte am liebsten eine fette Autismus-Pride-Flagge über meinem Kopf installieren, die mich überall hin begleitet und den Leuten ins Gesicht schreit, dass ich ok bin und sie kein Recht haben, mir das Gegenteil zu vermitteln.

Ich bin übrigens wirklich ok. Aber die Welt wird sich nicht plötzlich ändern, egal ob ich offen damit umgehe oder nicht. Leute werden nicht über Nacht plötzlich sensibel für Autismusfeindlichkeit sein. Sie werden all das, was mir weh tut, weiterhin tun.

Und ich wünsche mir, dass alle, die diesen Artikel lesen und nicht eh selbst autistisch sind, sich damit auseinandersetzen. Dass sie die Initiative ergreifen, autistische Leute nicht immer und immer wieder zu verletzen. (Ihr kennt mehr Autist*innen, als ihr glaubt!)

Eure Aufgabe. Eure Verantwortung. Weil ihr diejenigen seid, die Verletzungen zufügen.

Ich bin ok. Es liegt nicht an mir.

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