“Damit musst du leben.”

Über Streit zwischen Marginalisierten

Content Notes: Jagd auf Tiere (erwähnt), Vertreibung aus bevorzugtem Wohnraum (erwähnt), schlecht auflösbare Dilemmata, Aggression (implizit)

Vor einer Weile mal habe ich eine Diskussion verfolgt, die bei mir ein sehr schlechtes Gefühl ausgelöst hat. Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, worum genau es ging. Es ging um einen Sachverhalt, wo zwei sehr unterschiedlich marginalisierte Gruppen unterschiedliche Bedürfnisse hatten. Und es gibt einen bestimmten Punkt in der Argumentation, den ich hier aufgreifen möchte. Dazu möchte ich zunächst einen Blick drauf werfen, wie Diskussionen zwischen Marginalisierten und Privilegierten häufig ablaufen. (Vorsicht, extrem verkürzte Darstellung, weil es mir eben nur um einen ganz bestimmten Punkt geht.)

Marginalisierte: „Hey, X ist für uns sehr schlecht.“
Privilegierte: „Ja und? Ihr habt ja auch keine Lösung dafür.“
Marginalisierte: „Wir sind für Lösung Y.“
Privilegierte: „Äh, nein, das würde ja unser Privileg ankratzen.“
Marginalisierte: „Stimmt. Damit müsst ihr aber leben. Wir haben ein Recht auf Lösung Y, ein Recht auf das Ende unserer Diskriminierung.“

Mir geht es um die Argumentation im letzten Teil. Dass Marginalisierte Veränderungen völlig zurecht einfordern und Privilegierte es hinnehmen müssen, Privilegien zu verlieren. Das ist aus meiner Sicht in dieser Diskussion eine sehr wichtige Grundhaltung.

Aber ich sehe mitunter, dass diese Art der Argumentation einfach übernommen wird, wenn zwei marginalisierte Gruppen sich über etwas uneins sind. Weil Beispiele, die mich selbst betreffen, gerade zu viel Verletzlichkeit bei mir verursachen, und ich keine fremden Beispiele als Ersatz nehmen will, hier eine Fabel:

In einem Wald lebte einmal ein Tier namens Flix. Dort gab es Jäger*innen, die Flix jagen und töten wollten. Darin besteht seine Marginalisierung. Für Flix ist es enorm wichtig, im Wald gute Fluchtwege zu haben, denn es kann sehr schnell laufen. In letzter Zeit kam es aber immer wieder vor, dass Flix beim Laufen in irgendwelchen Erdlöchern hängenblieb. Hochgefährlich, denn sollte es sich dabei die Beine brechen, wäre es vorbei mit der Flucht und dem Leben.

Flix forscht also nach. Es findet heraus, dass die Löcher von einem Tier namens Stubs gegraben werden. Stubs lebt darin. Die Löcher kommen mittlerweile verstärkt im Wald vor, weil die Wiesen, in denen Stubs vorher gelebt hat, mit giftigen Chemikalien behandelt wurden. Das ist seine Marginalisierung – fehlender Lebensraum.

Flix sagt nun: „Deine Löcher bringen mich in Lebensgefahr, du kannst sie nicht mehr graben.“
Stubs antwortet: „Aber dann habe ich keinen Platz mehr zum Leben.“
Flix: „Stimmt. Aber damit musst du dann leben. Ich habe ein Recht auf sichere Fluchtwege, ein Recht, nicht gejagt und getötet zu werden.“
Stubs: „Gar nicht. Ich habe ein Recht auf Wohnraum. Du musst halt mit dem Risiko leben.“

Aus dem „Du musst damit leben, dass dein Privileg verschwindet“ wird an dieser Stelle: „Du musst damit leben, weiter diskriminiert und marginalisiert zu werden.“

Von Leuten zu verlangen, die eigene Marginalisierung einfach zu schlucken, ist NIE richtig.

Egal, wie viel eigener Schmerz da ist. Egal, wie sehr man selbst leidet. Diese Forderung kann man nicht stellen!

Jetzt kann man anführen, dass bestimmte Probleme und Schwierigkeiten nicht gleichwertig sind. Aber auf welcher Grundlage will man das tun? Häufig sind Schwierigkeiten in etwa so vergleichbar wie die Probleme von Flix und Stubs. Welches Problem ist wichtiger? Von wem kann man verlangen, einfach damit zu leben? Vielleicht könnte man sagen, wenn sich nichts ändert, ist Stubs in der besseren Situation. Schließlich hat es ein sicheres Leben. Nichts zu ändern wäre also nicht fair. Stimmt vielleicht. Aber was schlussfolgert man daraus? Macht diese Überlegung eine gute Lösung greifbarer?

Das ist übrigens auch ein wichtiger Punkt: In Diskussionen zwischen marginalisierten Gruppen muss man manchmal anerkennen, dass keine Seite einen guten Lösungsvorschlag hat. Dass es möglicherweise keine gute Lösung gibt, solange einem die Macht fehlt, Wiesen vor Gift zu schützen oder den Wald zu einem sicheren Gebiet zu machen.

Vielleicht gibt es auch Lösungen. Vielleicht kann Stubs sich vorstellen, in Baumhöhlen zu hausen oder seine Löcher nur noch unter Brombeersträuchern zu graben, die Flix ohnehin meidet. Aber Stubs steht ja in Wirklichkeit stellvertretend für eine große Gruppe sehr unterschiedlicher Leute. Wenn Stubs sich auf so eine Lösung einlässt, heißt das nicht, dass sie für alle buddelnden Wiesenlebewesen auch in Frage kommt. „Für Stubs ist das aber kein Problem“ ist daher auch kein Argument.

Natürlich gibt es auch Wesen, die in Erdhöhlen leben und gleichzeitig auf sichere Fluchtwege angewiesen sind. Sie haben bei keiner der vorgeschlagenen Lösungen Aussicht auf eine befriedigende Situation. Das nur kurz als Erinnerung, dass man im Angriff anderer marginalisierter Gruppen nicht nur die Leute trifft, die man sich als doch irgendwie mehr privilegiert als man selbst vorstellt.

Zusammenfassung: Sagt Leuten nicht, dass sie mit ihrer Marginalisierung leben müssen. Fordert nicht Lösungen von Leuten, die keine anbieten können, ohne sich selbst zu verletzen.

Das bedeutet aber übrigens nicht, dass man nicht Probleme ansprechen und Lösungen suchen kann. Manchmal gibt es die ja auch. Oder man verbündet sich gegen Giftbringende und Jagende. Miteinander über die Dinge sprechen: ja unbedingt! Nur eben ohne die Forderung, die anderen müssten mit ihrer Seite des Problems einfach leben.

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