Advent, Advent

Dies it ein Beitrag für den Autoren-Adventskalender 2023.

Wer mich noch nicht kennt, kann sich gern auf meiner Startseite oder unter Über mich etwas orientieren.

Jetzt wünsche ich erstmal viel Spaß beim Lesen:

LichtTraum

Eine Lunarpunkgeschichte
Hilde ließ mit einem tiefen Seufzen die Luft aus ihren Lungen fließen und konzentrierte sich dann mit halb geöffneten Augen auf ihre Hände, die entspannt auf ihren Knien lagen. Der Raum war abgedunkelt und nicht zu warm. Hilde konzentrierte sich weiter auf Atem und Entspannung und auf ihre Hände, die nun langsam immer wärmer wurden.
Die bläuliche Biofeedback-Lampe vor ihr begann, schwach zu leuchten. Sie hatte sie so eingestellt, dass sie auf die Wärme in ihren Händen reagierte. Einige Wochen Übung waren notwendig gewesen. Nun konnte sie zuverlässig eine Reaktion hervorrufen. Mittlerweile schaffte sie es sogar, wenn sie aufgebracht war oder sich geärgert hatte. Es war ihre Art der Meditation. Das Licht wurde langsam immer heller und wechselte kurz in einen grünlichen Bereich. Dann zog Hilde ihre Hände zurück und die Lampe erlosch.
Heute Abend wollte sie ein größeres Lichtexperiment wagen. Es war Dezember, wurde früh dunkel und spät wieder hell und wie viele andere erfreute sie sich in dieser Jahreszeit ganz besonders an Licht und Lichtspielen. Also hatte sie einen kleinen Veranstaltungsraum gebucht, sich alle Biofeedback-Lichter ausgeliehen, die sie auftreiben konnte und Einladungen verschickt. Die Wahrheit war, dass das eigentliche Experiment banal war. Wenn genug Leute auftauchten, würde die Raumtemperatur von allein steigen und die Lampen – die auf unterschiedliche Temperaturen eingestellt waren – würden nach und nach zu leuchten beginnen. Sie hatte Simulationen für verschiedene Personenzahlen berechnet.
Was es spannend machte, war die emotionale Komponente. Sie hatte Meditationen und Gesänge geplant, wollte eine Geschichte lesen und anleiten, sich selbst und den Raum wahrzunehmen. Und sie hatte eine Vorstellung davon, wie die lichtliche Begleitung all dieser Punkte aussehen sollte. Sie spürte das Lampenfieber nur allzu deutlich.

Lu hatte leicht schwitzige Hände, als ser am Eingang des kleinen Räumezentrums ankam, wo heute Abend ein LichtTraum veranstaltet werden sollte. Ser fühlte sich unsicher, sah auf die Tür und überlegte, einfach wieder zu gehen.
Lu war lange nicht unter Leuten gewesen. Die langen, kalten Finger serer Depression waren fest um sin geschlossen, hielten sin in sich gefangen und versteinerten, was von sim übrig war. Der Dezember war ohnehin nie ein guter Monat für sin gewesen. 
Lichttraum klang nach etwas, das ser brauchen konnte, zumindest sagte das die Vernunft. Das Ankündigungsbild war dunkel gewesen, mit bunten Lichtern, die sich von der Mitte ausbreiteten. Oder in der Mitte sammelten. Lu mochte die erste Interpretation lieber. Aber vielleicht stand das Bild auch symbolisch für die Leute, die an diesem Abend zusammenkamen. Ser schüttelte sich kurz. Symbolik. Ser mochte keine Gute-Laune-Symbolik, die einen dazu zwingen sollte, Gefühle zu fühlen, die ser eben nicht fühlte. Aber trotzdem war ser heute hier. 
Lu beobachtete eine Person mit einem blauen, gestrickten Mantel und grünem Stirnband, die an sim vorbeilief, die Glastür öffnete und ins Gebäude hineinging. Es war also schon offen. Trotzdem stand ser noch eine Weile einfach da und beobachtete weitere Leute, die vermutlich zum Lichttraum gingen. Erst fünf Minuten vor Beginn entschloss Lu sich, ebenfalls hineinzugehen. Auf einem selbstgemalten Schild direkt gegenüber der Tür stand in bunten Buchstaben: »Lichtraum: 1. Stock, Raum 1-5« Lu lächelte. Ser mochte gut sichtbare Beschilderungen.

Marell hatte es sich auf einem der Kissen, die auf den großen Quadern zum Sitzen ausgelegt waren, bequem gemacht. Ihr Stirnband hatte sie sich vom Kopf gezogen, aber den Mantel noch anbehalten, denn drei große Fenster waren geöffnet und ließen kühle Luft in den Raum. Marell sah sich in dem dämmrigen Raum um und beobachtete Hilde, die Veranstalterin dabei, wie sie Verkabelungen und Einstellungen verschiedener Lampen prüfte. Hilde wirkte auf Marell etwas nervös. Hin und wieder sah sie zu den Ankommenden und lächelte ein scheues, flüchtiges Lächeln, bevor sie sich wieder beschäftigte. Marell zählte mittlerweile acht weitere Personen, die sich auf Kissen, Stühle und Hocker verteilten. Sie schloss einen Moment die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Sie fühlte den Raum um sich herum, fühlte sich darin geborgen. Sie wusste nicht, was Hilde geplant hatte, aber sie vertraute. Einfach so vertraute sie Hilde und den anderen fremden Menschen, die zusammen einen Lichttraum erleben wollten. Marell lächelte, als sie hörte, wie die Fenster geschlossen wurden. Es konnte losgehen.

»Herzlich willkommen«, sagte Hilde in den Raum hinein, der von einer noch etwas ungemütlichen Stille geprägt war. Einige Personen ruckelten sich noch auf ihren Sitzen zurecht, kratzten sich am Pullover oder hinter dem Ohr oder sahen sich unruhig im Raum um. Hildes Stimme klang ein wenig leise und unbeholfen. 
»Ich bin kein Entertainerx«, sagte sie, »aber ich zähle drauf, dass ihr Lust auf diesen Abend habt. Ich will mit euch zusammen eine Erfahrung kreieren, für uns, weil es draußen viel dunkel ist und ich mir das wünsche. Danke, dass ihr gekommen seid und das mit mir versuchen möchtet.« 
Hilde fühlte ein Zittern in ihrem Körper, ihren schnellen Puls, und dachte einen Moment an die Übung, die sie heute Morgen noch durchgeführt hatte. Sie atmete, sah noch einmal alle Personen an und sagte dann: »Zuerst möchte ich auch bitten, die Augen zu schließen und euch vorzustellen, wie ein Licht in der Mitte des Raumes erscheint. Zuerst nur ganz schwach…«

Nara lehnte seinen Kopf gegen die Wand hinter sich. Als er die Augen schloss, fühlte er einen kurzen Moment lodernde Wut und dann unendliche Müdigkeit. Sehnsucht nach Licht. Doch seiner Vorstellung erschien in der Mitte eine Flamme, die laut knackte und knisterte. Hilde erzählte von sanftem Leuchten, und er wollte weinen, weil er es sich nicht vorstellen konnte. Dann forderte Hilde sie alle auf, die Augen zu öffnen und ihr Lichtbild gedanklich in die Mitte zu projizieren. Nara bemühte sich, und weil er nur die wütende Flamme in sich hatte, projizierte er eben die. Er war sicher, dass alle anderen warme, schöne Lichter sahen, vielleicht in bunten Farben. Nur er nicht. Nara fühlte Bitterkeit, die ungerecht war. Was wusste er schon von den anderen. 
Und dann zuckte ein Licht durch den Raum. Schwach und kurz leuchtete eine Lichterkette auf, die in der Raummitte von der Decke hing. Wie ein Tropfen lief das Licht von oben nach unten. 
Nara starrte darauf, als eine Scheibe am Boden ebenfalls zu leuchten begann. Und dann tropfte Licht in allen Farben durch die Lichterkette nach unten und auf der Scheibe entstand eine bunte Lichtkuppel, an deren Seiten Lichter nach oben züngelten. Wie Feuer. Wie ein freundliches Feuer. Und ein Teil von Nara wollte darauf stampfen, die Kuppel zerstören. Aber Tropfen um Tropfen kamen Farben dazu. Und Nara wusste, dass das Hologramm jedem Stampfen standhalten würde. Man müsste den Strom kappen, um sie zu zerstören, nicht drauftreten. 
Den Strom kappen. Der Gedanke war seltsam nüchtern, seltsam real. Und da fühlte Nara plötzlich, was er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Er nahm wahr, wie wirklich alles war. Dass die Menschen in diesem Raum alle gekommen waren, um hier zu sein, um dies zu tun. Und dass er genau wie die anderen einfach mitmachte. Mit all seiner Wut, denn es waren nur elektrische Lichter, die er mit seiner Anwesenheit nicht zerstören würde.

Die Farbkuppel war zu schwach, um den Raum zu erhellen. Lu fühlte sich nicht ganz wohl in dem daraus entstehenden Halbdunkel. Und sim war kalt. Von innen heraus kalt. Vielleicht wäre ser lieber im Bett geblieben. Aber auch da wäre es dunkel. Und allein. Lu hörte, wie Leute in seiner Nähe atmeten. Wenigstens war ser nicht allein. Hilde atmete mit einem leisen »soo« aus, bevor sie wieder zu sprechen begann. »Es ist noch kalt und ein wenig düster hier«, erklärte sie. »Falls euch zu kalt ist, nehmt euch eine Decke. Das hätte ich vorhin sagen sollen. Aber wir wärmen uns. Also, wir wärmen den Raum, nur durch unser Hiersein.« Eine purpurner Lichtstrahl erschien hinter Hilde an der Wand. Und dann weitere in lila, blau, pink und orange an allen Wänden. Hilde warf einen kurzen Blick auf ein Thermometer an ihrem Handgelenk. 
Der Raum, dachte Lu. Erst gibt sie uns die Mitte und jetzt den Raum. 
Der Gedanke war tröstend. Einerseits, weil es schien, dass Hilde tatsächlich einen Plan hatte. Und andererseits, weil Lu sich das Leuchten hinter sich vorstellte. Und es fühlte sich an wie eine Grenze, wie ein Halt, wie etwas, das sin trug. 
Lu entspannte ein wenig. Und als Hilde nun einen Gesang einleitete – lange, schlichte Töne, in die man eigene Töne einweben sollte – wagte ser tatsächlich, einen leisen, kratzigen Ton beizusteuern. Und dann brummte ser, etwas tiefer als Hilde, während von gegenüber zwei helle Stimmen eine ganze Oktave höher einstiegen. Der Gesang wurde lauter, schien einen Moment in Einzelteile zu zerfallen und wurde dann doch irgendwie ein ganzes. Ein Klangteppich aus Stimmen. Und während sie sangen, begannen kleine Lichter in der Zimmerdecke zu funkeln. Wie Sterne. 
Der Raum, dachte Lu, jetzt schenkt sie uns einen Himmel.

Hilde erzählte mit ihrer etwas leisen Stimme eine Geschichte von einem Drachen, der sich in einer Höhle vergrub, um neu geboren zu werden. Sie hatte es geübt, damit sie nicht ablesen musste. Aber es war beim Üben nie gewesen wie jetzt, wo sich der Raum mit einer dichten, angenehmen Stille gefüllt hatte. Wo die Aufmerksamkeit der anderen ihrer Stimme galt, und ihre Worte sie gemeinsam durch die Bilder und Vorstellungen trug. Hildes Herz klopfte noch immer deutlich schneller als sonst, und ihr Blick schweifte kurz zum Thermometer, um zu sehen, dass ihr Plan bisher aufgegangen war. Aber trotz der kurzen Ablenkung ließ auch sie sich tragen von der eigenen Stimme. Die Scheibe in der Mitte begann ein ganz bisschen zu früh, strahlend hell zu leuchten, und kündigte die Geburt des Drachens auf diese Weise an, statt sie zu begleiten. Aber das war in Ordnung, dachte Hilde. Denn sie sah nun erleuchtete Gesichter, die lächelten oder in konzentrierter Aufmerksamkeit ins Nichts sahen. Die anderen waren Teil dieser Erfahrung, die sie gestaltet hatte und nun erleben durfte.

Marell war selig. Sie schüttelte sich kurz, wie es der Drache aus der Geschichte beim Verlassen der Höhle auch getan hatte. Sie fühlte ein Glitzern in ihrem Innern, das mit dem Hellerwerden des Raumes immer wärmer und deutlicher geworden war. Etwas wie verliebt sein in sich selbst. Sie hätte gern die Hände ihrer Nebenpersonen gegriffen, aber kurze Blicke nach rechts und links legten nahe, dass die anderen mehr bei sich bleiben wollten. Fragen traute sie sich nicht, denn sie wollte gerade ihre Stimme nicht hören. Sie wollte ganz ruhig bleiben. Raum und Licht in sich aufnehmen. Es war nun hell, bunt und warm im Raum geworden und Hilde begann, eine abschließende Meditation anzuleiten. Wer möchte, könnte die Augen schließen. Doch Marell wollte sehen. Sie betrachtete die unterschiedlichen Lichter. Nur flüchtig die Gesichter der anderen, denn sie wollte nicht aufdringlich sein. Sie fühlte sich auf eine angenehme Weise mit den anderen verbunden. Die Anleitung zur Meditation nahm sie kaum wahr, denn sie brauchte sie nicht. Sie fühlte bereits so viel, so intensiv, war so nah bei sich und im Moment, dass sie nichts anderes wollte. Doch Hildes ruhige Stimme wob sich dennoch mit in den Augenblick hinein und begleitete Marell, während sich die Farben der unterschiedlichen Lampen langsam verschoben. Sie wurden gelber, oranger. Nur einige wurden rot. Das Licht unterstrich das Gefühl von Wärme. Herdfeuer, dachte Marell, Herz.

Nara wischte Tränen aus seinem Gesicht. Hilde hatte das leuchtende Rot langsam zurückgefahren, bis der Raum nur noch von einem schwachen, aber warmen Gelb beleuchtet wurde. Der Lichttraum war zu Ende. Er wollte aufstehen und Hilde sagen, dass sie ihn berührt hatte. Eine zähnefletschende Wut in seinem Innern schimpfte darüber. Lächerlich, dass er sich von etwas Licht, von sinnlosem Gefasel, einlullen ließe. Und noch viel lächerlicher, dass er es auch noch zugeben wollte. Er schluckte mehr Tränen herunter und blieb einfach sitzen, während die anderen sich Lächeln und Blicke zuwarfen, sich bei Hilde bedankten oder kurze Gedanken zu ihrem Erleben tauschten. 
Und als alle gegangen waren und Nara immer noch an die Wand gelehnt dasaß, setzte Hilde sich einfach neben ihn. 
»Ich mag Licht«, sagte sie und sah in den Raum hinein. Glücklicherweise nicht zu ihm.
»Ich nicht«, antwortete er, unfähig, seine giftige Wut auszuschalten. 
Doch Hilde schnaubte nur etwas belustigt. 
»Heute war schön«, sagte Nara und fühlte Tränen und Wut stärker werden. 
»Willst du noch bleiben? Einfach nur sitzen?«
Doch da trat neben die Wut seine Scham und er schüttelte nur den Kopf. Ein plötzlicher Fluchtimpuls zwang ihn zum Austehen, aber dann drehte er sich noch einmal um und sagte: »Das hier. Was du machst. Ich wünschte, ich könnte das. Ich wünschte, ich würde mich trauen. Dann wäre der Raum nicht schön und sanft, dann würde alles brennen, aber wenigstens könnte man es sehen.« 
Hilde blinzelte, sah durch den Raum und meinte dann: »Wutlichter. Zornraum. Rasender Zerstörungstraum. Alles möglich.«
Nara stutzte. Und dann lachte er. Bevor er sich selbst aufhalten konnte, umarmte er Hilde, flüsterte ein Danke in ihr Ohr und ein »Dann bis bald«. Und dann flüchtete er tatsächlich, bevor Wut und Scham den Moment zerstörten.

Lu stand unschlüssig vor dem Gebäude, in dem der Lichttraum stattgefunden hatte. Ser hatte ein Bedürfnis, noch ein wenig zu bleiben, als könnte ser so noch irgendetwas von hier mitnehmen. Die Person mit dem blauen Strickmantel zog sich gerade ihr grünes Stirnband auf und grinste sin an. 
»War gut, oder?«, meinte sie. So viel Herzlichkeit in der Stimme. Sie erinnerte Lu an das orange Licht, an die Wärme des Raums. Hier draußen spürte ser bereits wieder die grauen, kalten Finger der Depression.
»Ja«, antwortete Lu und schob sere Hände in die Hosentaschen. Nein, ser wollte wirklich noch nicht gehen. Nicht zurück in sere Wohnung, in ser Bett, das seit Monaten von düsteren Wolken umgeben schien. 
»Ich bin Marell, sie/ihr«, sagte Marell. 
»Lu, ser/sim«, antwortete Lu. 
Marell musterte sin noch einen Moment und meinte dann: »Du siehst aus, als könntest du einen Tee vertragen.« 
Lu versuchte ein Lächeln, das sim nicht gut gelang. Traurigkeit lauerte dahinter, die Untiefen einer Einsamkeit, die Marell nicht auffangen könnte. Die Kälte, die ser Herz nun einmal erfasst hatte und die sich dort hartnäckig hielt. Aber trotzdem, dachte ser. Man musste sich nicht alles Gute versagen, nur weil man eine Depression hatte.
Also murmelte ser »gern« und nickte stumm, als Marell ein Abendcafé in der Nähe vorschlug. Menschen, und Licht, und Tee.

Hilde ging mit beschwingten Schritten nach Hause. Der Lichttraum war geglückt. Und besser noch, sie hatte bereits ein neues Projekt. Ein größeres Projekt sogar. Ob Nara sich beteiligen würde, ob sie seine Wut darstellen durfte, das wusste sie noch nicht. Aber es würde eine ganze Reihe werden. Sie würde Lichtbühnen erstellen, Erleben gestalten, mit den Dingen, die andere erzählten. Sie hüpfte einige Schritte, ein breites Lächeln im Gesicht. Es war Dezember.