Ein Text darüber, warum die Abwertung anderer uns allen schadet und was man stattdessen tun kann.
Je mehr ich mich mit verschiedenen –ismen beschäftige, desto mehr drängt sich mir der Gedanke auf, dass sie alle ein zugrundeliegendes Problem gemeinsam haben.
Ich nenne es Hierarchismus und definiere es wie folgt:
Hierarchismus ist die grundlegende Überzeugung, dass verschiedenen Menschen ein unterschiedlicher Wert zukommt. Dies geht mit dem Bestreben einher, in der daraus resultierenden Hierarchie möglichst weit oben oder zumindest nicht zu weit unten zu stehen.
Das Bedürfnis nach einem guten, stabilen Selbstwert ist zutiefst menschlich. Dass unser Selbstwert auch damit zu tun hat, dass wir uns mit anderen messen, vielleicht besser in etwas sein wollen als andere, ist Teil menschlicher Normalität. Dass wir uns wünschen, von anderen Anerkennung zu bekommen und als „guter Mensch“ gesehen zu werden, ebenfalls.
Aber Hierarchismus befriedigt diese Bedürfnisse durch eine willkürliche Abwertung anderer, häufig durch die Abwertung unveränderlicher Merkmale wie z. B. Geschlecht oder Hautfarbe, aber auch durch die Bewertung veränderlicher Merkmale wie etwa Bildung, Schönheit oder Leistungsfähigkeit. Dabei wählen Menschen unterschiedliche Maßstäbe. Vielleicht, weil sie es so gelernt haben (z. B. von Eltern, in der Schule…). Vielleicht, weil ihnen selbst etwas besonders wichtig ist. Oft wählt man einen Mischmasch verschieder Maßstäbe. Aber das Konzept bleibt das gleiche und das dahinterstehende Menschenbild ebenfalls.
Während es wichtig ist, sich die einzelnen Phänomene verschiedener –ismen anzusehen, brauchen wir den Blick für das dahinterliegende. Sonst passiert es nämlich, dass man eine Abwertung nur aufgeben kann, indem man sich eine andere angewöhnt. Die Abwertung verrutscht thematisch, aber die Hierarchisierung von Menschen bleibt. Eine Hierarchie, die oft bis zuletzt übrig bleibt, ist die von Intelligenz und Bildung. (Nein, niemand muss wissen, was Attitüde heißt!)
Das Gegenteil von Hierarchismus ist Akzeptanz, dass wir nicht wertvoller sind als andere. Dass wir nicht mehr oder besseres verdient haben. Sondern dass Gleichheit in Wert und Rechten tatsächlich umfassend ist. Und ja, das betrifft sogar Menschen, die weniger aufgeklärt, weniger progressiv, weniger menschenfreundlich oder weniger moralisch integer sind. Auch auf diesen Skalen ist eine Hierarchie immer noch ein Problem.
Wenn wir damit aufhören, benötigen wir für unseren Selbstwert andere Quellen als die Abwertung anderer. Vielleicht gar nicht so leicht, daher hier noch einige Anregungen, was das sein könnte:
1. Der Verzicht auf die Abwertung anderer
Jedes Mal, wenn ich andere aufgrund irgendwelcher Banalitäten abwerte, schicke ich mir selbst die Botschaft, dass Abwertung immer nur einen Millimeter entfernt ist. Wenn ich Menschen danach einteile, ob sie nun Anerkennung verdienen oder nicht, dann muss ich mich selbst auch einteilen. Die Abwertung anderer ist immer auch die drohende Abwertung meiner Selbst. Zumal ich ja mindestens unbewusst davon ausgehe, dass alle Menschen so denken wie ich und genauso munter durch die Gegend abwerten.
Wenn ich dagegen großzügig mit Anerkennung und Wertschätzung bin, darf ich vielleicht glauben, dass ich selbst davon auch genug bekomme. Das gilt für mich persönlich insbesondere da, wo mir Menschen nicht so ähnlich sind. Wenn ich beginne, auch Menschen, die mich erstmal verunsichern oder in Frage stellen, wertzuschätzen, wird man ganzes Weltbild breiter. Manchmal öffnet es mir Möglichkeiten, auf die ich sonst hätte verzichten müssen. Oder es gibt Anteilen von mir Raum, die ich vorher auch abgewertet habe.
Dazu möchte ich kurz noch einschieben, dass es völlig in Ordnung ist, sich über andere zu ärgern. Man darf sich von anderen gestört fühlen, einen Kontakt unangenehm finden, manche Menschen lieber meiden. Es geht hier nicht um ein harmonisches Friede-Freude-Eierkuchen-Ding. Ärger ist aber etwas ganz, ganz anderes als Abwertung!
Beispiel: „Boah, unsere Nachbarn haben schon wieder eine Party gefeiert und uns bis spät in die Nacht mit Musik zugedröhnt! Unmöglich!“
Oder (Vorsicht, Ableismus/Klassismus): „Boah, unsere Nachbarn wieder! Aber klar, wer zu einem intellektuellen Gespräch nicht fähig ist, muss sich halt zuballern, ne? Was für Asis.“
Vor allem über Menschen, die moralisch nicht integer sind und vielleicht noch dazu viel Verantwortung für andere tragen, darf man sich sehr, sehr ärgern. Einschließlich Konfrontation, wo möglich!
2. Verbundenheit
Wenn ich einen Raum betrete, und die Menschen darin lächeln mir zu, freuen sich, dass ich da bin, rutschen zusammen, um mir Platz zu machen. Dann fühle ich mich erwünscht, gemocht, wertvoll.
Das ist natürlich nur ein etwas plakatives Beispiel, was ich mit Verbundenheit meine. Es gibt viele verschiedene Arten und Möglichkeiten, sich verbunden und als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Ich erlebe das zum Beispiel auch sehr, wenn ich mit anderen gemeinsam kreativ sein kann. Da bin ich gefragt mit meinen innersten Ideen, meiner Fantasie, meinen ganz eigenen Gedanken. (Und es funktioniert daher auch nur mit Leuten, mit denen ich mich emotional sicher fühle.)
Ich finde Verbundenheit sehr relevant, weil es auf der großen gesellschaftlichen Ebene häufig viel zu kurz kommt, ob wir eigentlich gerne zusammenleben oder wie Strukturen gestaltet werden können, damit dies der Fall ist. Wird z. B. von Inklusionsklassen gesprochen, kommt sofort die Sorge, dass die einen Kinder die anderen runterziehen könnten, dass manche Kinder zu kurz kommen würden und so weiter. Es wird dann sogar oft betont, dass ja auch die nicht-behinderten Kinder voll profitieren und Soft Skills lernen, die später im Beruf ja sooo wichtig sind und ehrlich, bei dieser Argumentation möchte ich in die Tischplatte beißen.
Können wir nicht gemeinsam sein, weil Gemeinschaft schön ist? Weil wir Menschen Gemeinschaft brauchen? Und können wir bitte die Daseinsberechtigung behinderter Kinder nicht danach beurteilen, ob sie einen Nutzen für die Karriere anderer haben?
3. Können
Auch ganz ohne Abwertung anderer kann ich mich an meinem Können erfreuen. Und ich kann andere in ihrem Können bestärken, wenn ich nicht fürchte, damit die Hierarchie zu meinen Ungunsten zu verändern. Denn wir hierarchisieren auch Können. „Krass, du hast Mathe studiert?“ hört man vermutlich öfter als „Krass, du kümmerst dich um ein Kleinkind?“.
Damit verbunden sind auch Denkansätze von Scarcity vs. Abundance (Knappheit vs. Fülle). Wir hierarchisieren, weil wir ständig dazu aufgefordert werden, um vermeintlich knappe Ressourcen zu kämpfen. Wenn ich Lesende für mein Buch finden will, dann muss ich vermeintlich besser sein als die meisten anderen Schreibenden, weil die Ressource „(kaufwillige) Lesende“ angeblich knapp ist. In Wahrheit besteht vermutlich das Hauptproblem darin, dass Zielgruppe und Schreibende nicht so gut zueinanderfinden, wie es vielleicht möglich wäre, wenn wir nicht alles als Wettkampf sehen würden.
(An dieser Stelle bitte beliebig große Mengen Kapitalismuskritik einfügen.)
Abundance, also Fülle, geht davon aus, dass genug da ist. Und dieses Denken brauche ich, damit ich akzeptieren kann, nicht mehr zu bekommen als andere. („Nicht mehr“ ist dabei natürlich in Abhängigkeit vom Bedarf zu sehen.) Dazu gehört: Auch wenn wenig da ist, kann es immer noch genug sein. Aber wenig zu haben in dem Wissen, dass andere in Luxus schwelgen, ist gemeinhin schwer auszuhalten.
4. Nicht-Können, Fehler, Versagen
Das sind potentiell Dinge, die unser Selbstwertgefühl ziemlich bedrohen können. Besonders dann, wenn der Selbstwert stark auf Können aufgebaut ist. Je stärker ich hierarchisch denke, desto gravierender wirkt sich das aus, weil ich durch Fehler und Nicht-Können in der Hierarchie abrutsche – zumindest, wenn ich nicht irgendwie kompensieren kann. (Hallo, Burnout!)
Ich denke, es ist wichtig, sich eine Denkweise anzugewöhnen, in der Fehler, Versagen und Nicht-Können neben dem stehen können, was unseren Selbstwert ausmacht. Und hierzu mal ein Aufruf: Versucht, auf die Fehler anderer so zu reagieren, als hättet ihr diese Denkweise bereits. Es ist nämlich übel schwer, das ganz für sich allein zu klären. Wenn es gelingt, wird aber auch das Annehmen von Hilfe leichter und kann vielleicht sogar zu einem schönen Gefühl von Verbundenheit führen.
5. Lieb zu sich selbst sein
Ich glaube, man lernt auch von sich selbst, ob man wertvoll ist oder nicht. Ich lasse diesen Punkt mal sehr kurz, weil das etwas sehr persönliches ist. Aber ja, du hast die Ruhepause verdient. Ja, du darfst einen Film ohne intellektuellen Anspruch sehen. Ja, nimm dir auch noch das dritte Kissen (solange du es niemandem wegnimmst).
Fazit:
Es ist nichts gewonnen, wenn du deinen Sexismus gegen Ableismus ersetzt oder aus rassistischen Gedanken klassistische machst. Solange willkürliche Abwertung und die Etablierung von Machtungleichheiten zu deinem Verhaltensrepertoire gehören, gibt es Änderungsbedarf.
Das Schöne daran: Du darfst dich uneingeschränkt selbst lieb haben. Und andere Menschen auch.
PS: Es gibt bestimmt andere Menschen, die sich da schon Gedanken zu gemacht haben. Und vielleicht existieren irgendwo schon fest belegte Begriffe für das, was ich hier beschreibe. Falls jemand da Hinweise für mich hat, freue ich mich.