Sicher kennst du das Gefühl, wenn man sich so richtig blöd das Schienbein an einer Kante stößt. Zum Beispiel an so einem blöden, kantigen Couchtisch, der genau die Höhe hat, wo es so richtig weh tut. Vermutlich weißt du auch, dass so ein Stoß nicht besonders schlimm ist, dass der Schmerz relativ schnell wieder nachlässt und dann bloß ein blauer Fleck zurückbleibt. Sich in seinem Leben ein paar Mal das Schienbein zu stoßen ist nicht so schlimm.
Jetzt stell dir vor, ich würde von dir verlangen, mit voller Absicht und voller Wucht dein Schienbein an besagte Kante zu rammen. (Nehmen wir an, es gäbe irgendeinen plausiblen Grund dafür, das zu tun.)
Vermutlich würdest du zögern und vermutlich hättest du auch nicht die volle Wucht drauf, wenn du dich denn überzeugen könntest, es tatsächlich zu tun. Es sei denn, es würde etwas wirklich, wirklich wichtiges davon abhängen. Dein Leben z. B., dann würdest du nicht zögern. Vielleicht hättest du auch ganz schön viel Wucht, wenn die Abschlussnote deiner beruflichen Ausbildung davon abhängen würde, wie stark du zutrittst.
Also, was ich damit sagen will: Obwohl es sehr unangenehm ist, wärest du wohl in der Lage, dich dazu zu überwinden. Wenn es eben wichtig wäre. Aus Spaß einfach mal so gegen die Tischkante laufen – das ist eher unwahrscheinlich.
Stell dir vor, dass du morgens in deinem Bett liegst und weißt: Wenn du jetzt aufstehst, musst du gleich zuerst mit voller Wucht gegen die Tischkante laufen. Und du weißt auch, das wird an diesem Tag nur das erste Mal von fünf bis zehn Schienbeinstößen sein. Wenn du Glück hast.
Mal dir das bitte einen Moment wirklich aus. Du liegst da, der Wecker hat bereits geklingelt und du möchtest aufstehen und den Tag beginnen. Das möchtest du wirklich. Aber du weißt, was das bedeutet und du bist bereits jetzt, kurz nach dem Aufwachen, total angespannt, weil es gleich wieder weh tun wird. Weil du nicht weißt, wie oft das an diesem Tag passieren wird und wie gut du heute damit umgehen kannst. Ein Teil von dir möchte vielleicht einfach liegen bleiben, nur damit es nicht weh tun muss.
Es kann auch sein, dass du aufwachst und weißt, dass du heute an einen Ort gehen musst, wo dir andere Leute ständig vors Schienbein treten. Mit voller Wucht. Und dass diese anderen Menschen dann komisch gucken, wenn du dir den Schmerz anmerken lässt, also hast du schon lange gelernt, einfach zu lächeln und nichts zu sagen.
Dein Schienbein tut übrigens noch von gestern weh, denn da war es nicht anders.

Vielleicht findest du dieses Beispiel ganz schön obskur.
Viele sehr alltägliche Dinge fühlen sich für mich aber genauso an, als würde ich absichtlich gegen eine Kante treten müssen. Hier ein paar Beispiele:
- das Bad putzen müssen
- Dinge aufräumen, die sich über längere Zeit irgendwo angesammelt haben (ganz besonders: in einen Karton gucken müssen, in den ich irgendwann mal Dinge geräumt habe, die nirgendwo Platz haben)
- Jacke, Schuhe etc. anziehen, weil ich aus dem Haus gehen will
- entscheiden, ob ich erst dusche oder erst esse
- Dinge aus dem Kühlschrank nehmen, die nicht ordentlich eingeräumt wurden
- einen langweiligen Text lesen müssen
- jemanden anrufen, den ich nicht kenne
- einen Arzttermin wahrnehmen
Es gibt andere Dinge, die ich gerade mit in die Liste schreiben wollte, die aber dann doch nicht damit vergleichbar sind. Manche Dinge sind kein kurzer Schmerz, der dann wieder vorübergeht. Manche Dinge sind schlimm, weil sie andauern. Dazu gehören z. B.:
- in einem lauten Supermarkt sein
- stundenlang in einem Seminar sitzen
- den halben Tag auf einen Termin am Nachmittag warten
- in einer Gruppe Menschen sein, ohne gemeinsam etwas zu tun
- Schuhe tragen
Diese Dinge fühlen sich vielleicht eher an, als müsste man ein Hemd über Sonnenbrand tragen und dürfte niemanden merken lassen, wie unwohl man sich fühlt. Das ist vielleicht da ein besserer Vergleich als der mit der Tischkante.

Worauf ich vor allem hinaus will: Es ist theoretisch immer möglich, sich zu überwinden und gegen die Kante zu treten. Sich zusammenzureißen und das Hemd auf der sonnenverbrannten Haut hinzunehmen. Aber in der Praxis erfordert es sehr, sehr viel Kraft, und die hat man nicht immer. Nicht jeden Tag aufs Neue. Nicht achtmal am Tag. Nicht über Stunden hinweg.
Früher war mir nicht bewusst, dass es anderen Menschen nicht so geht. Ich habe mich als Versagerin gefühlt. Ich habe nicht verstanden, warum einfach nur leben so viel Kraft kostet. Es erschien mir so unmöglich, dass andere Vollzeit arbeiten, ihren Haushalt im Griff haben und dann noch Hobbys nachgehen und Freunde treffen. Ich wollte das auch können. Und statt ein paar Tischkanten aus dem Weg zu räumen, bin ich mit Wucht dagegen getreten. „Fake it till you make it“ führt in dem Fall nur zu Schmerz und blauen Flecken, und am Ende zu völliger, psychischer Erschöpfung.
Jetzt verwende ich mehr Energie darauf, Tischkanten aus dem Weg zu räumen, Sonnenbrand zu vermeiden und Hemden zu tragen, die mir angenehm sind. (Coole Metaphern, die man übrigens auch alle wörtlich nehmen kann!)
Jetzt bin ich immer besonders nett zu mir, wenn mir mal wieder besonders viele Tischkanten begegnet sind oder wenn ich stundenlang einem nervigen Sonnenbrand ausgesetzt war. Und ich verstehe, dass es gar nicht so viel mit Lust oder Motivation zu tun hat, wenn ich manchmal Dinge nicht kann oder nicht will.
Weil ich finde, so ein Text sollte lieber mit was schönem enden, hier noch eine Liste von Dingen, die ich gerne mag und die mich (meistens) nicht stressen:
- Regeln für ein Rollenspielsystem ausdenken, das ohnehin nie spielfertig sein wird
- meine Lieblingslieder hören
- den Nacken gestreichelt bekommen (nur von den Leuten, die das dürfen)
- meine Gefühle ehrlich zum Ausdruck bringen, z. B. in einem Gedicht oder einer Geschichte
- mit nackten Füßen über angenehm temperiertes Gras laufen
Ja, siehst du, jetzt muss ich lächeln, nur weil ich über diese Dinge nachgedacht habe. Das ist wie Anti-Schmerz-Creme fürs Schienbein oder für den Sonnenbrand! In diesem Sinne wünsche ich dir an dieser Stelle einen Tag, der möglichst frei ist von Tischkanten und kratzigen Hemden!
Liebe Grüße – Iris
