Wenn man im Internet nach Tartan, also dem schönen, schottischen Karowebmuster sucht, trifft man oft auch auf eine Frage. Nämlich: Darf man Tartan tragen, wenn man keinem schottischen Clan angehört? Das scheint vergleichsweise viele Leute zu beschäftigen und ich habe dazu verschiedene und leicht widersprüchliche Dinge gelesen.
Auf houseofscotland.at steht, alles sei nur ein Mythos und natürlich dürfe jeder jedes Muster tragen. Es ginge rein um „guten Geschmack“. Bei the-british-shop.de lese ich dagegen: „Die meisten Clans sind eher großzügig, wenn es darum geht, wer ihr Muster tragen darf und wer nicht.“
Das klingt schon ganz anders. Es bedeutet vielleicht trotzdem, dass das Tragen kein Problem ist. Aber es verortet die Entscheidung darüber ganz klar bei den einzelnen Clans und nicht bei meinem privaten Modegeschmack. Und auf visitscotland.com wiederum lese ich, dass es durchaus Stoffe gibt, die man nicht tragen darf, weil sie etwa den Chiefs der Clans oder der britischen Königsfamilie vorbehalten seien. Wobei man den Tartan der Queen wohl tragen darf, ohne sie zu fragen.
Auf razyboard.com habe ich eine Diskussion gelesen, bei der vor allem herauskam, dass verschiedene Schotten verschiedene Meinungen zum Thema haben und dass man im Zweifelsfall eben auf die Stoffe ausweichen sollte, die ohnehin frei und ungebunden sind.
Also, die Frage, was man tragen darf oder nicht, bleibt ein bisschen schwammig beantwortet. Aber darum soll es hier auch eigentlich gar nicht gehen. Eigentlich möchte ich über meine persönlichen Empfindungen dazu berichten.
Als ich das erste Mal davon hörte, dass manche Stoffe den Clans vorbehalten sind, habe ich das einfach so hingenommen. Ich konnte zu der Zeit nicht wirklich verstehen, warum ein Stoffmuster für irgendjemanden eine so große Bedeutung haben könnte, aber ich hatte keine Schwierigkeiten, diese Tatsache zu akzeptieren. Wenn die Schotten das so sagen, wenn das ihre Tradition ist und denen das wichtig ist, warum sollte ich das nicht achten?
An dieser Stelle ein kurzer Einschub zum Mobbing:
Stellen wir uns vor, jemand wird von seinen Kolleg*innen gemobbt. Sie machen sich über alles lustig: Seine Kleidung, Haare, Körperhaltung, die Art des Sprechens oder Gehens. Alles. Vielleicht wird das Mobbing von anderen nicht wahrgenommen, vielleicht auch ignoriert.
Dann kommt eines Tages eine Kollegin in Verkleidung des gemobbten Mitarbeiters zur Arbeit. Sie trägt ähnliche Kleidung, ahmt Gestik, Mimik und Sprache des gemobbten Mitarbeiters nach. Eine Riesengaudi für alle (außer eben für den Gemobbten).
Als nun doch Vorgesetzte darauf aufmerksam werden, erklärt die verkleidete Kollegin: „Ich kann mich ja wohl anziehen, wie ich möchte. Außerdem ist das doch ein Kompliment, wenn ich den Kleidungsstil auch will.“
Weder Vorgesetzte noch Kolleg*innen tun daraufhin etwas. Wenige Tage später kommt die halbe Belegschaft verkleidet. Alle feiern sich für den gelungenen Witz.
Als der gemobbte Mitarbeiter endlich die Kraft findet, den Mund aufzumachen, wird ihm gesagt: „Wir können da nichts machen. Alle dürfen sich anziehen, wie sie möchten. Außerdem ist es doch ein Kompliment, dass sie sich so an Ihnen orientieren.“

Wenn ich ehrlich bin, geht es in diesem Blogbeitrag weder um Schotten noch um Mobbing, aber tatsächlich um Privilegien, Rassismus und Cultural Appropriation. Ich habe nämlich den Verdacht, dass in Bezug auf Schottland viele innerlich so reagieren wie ich. Es ist jetzt auch einfach, weil es ja viele „erlaubte“ Muster gibt. Ich darf also meinen schicken Schotten-Mini immer noch tragen, ohne dass da jemand böse drüber ist. Mir geht also nicht viel verloren.
Ich wünschte nur, ich würde innerlich ganz genau so reagieren, wenn andere Bevölkerungsgruppen eine ähnliche Rücksicht einfordern. Wenn z. B. darauf aufmerksam gemacht wird, dass der Federschmuck nordamerikanischer Menschen kein Karnevalskostüm ist.
Aber ich gestehe, meine innere Reaktion ist da anders. (Kurzer Einschub: Meine innere Reaktion. Äußerlich kann ich diese Forderung auch achten, bevor in meinem Gefühlsleben angekommen ist, warum das wichtig ist!)
Ich denke dann jedenfalls an meine Kindheit, an Karl May und mein Karnevalskostüm in der dritten Klasse. Ich hatte immer den Wunsch, mit meinen Kindern zu den Karl-May-Festspielen zu fahren, weil ich selbst früher so begeistert davon war. Ein Teil von mir möchte darum kämpfen, das behalten zu dürfen. Mir selbst weismachen, dass das alles ok war und ist.
Und natürlich war es für mich als Kind ok, von einer Show mit Pferden, Freundschaft und Witz begeistert zu sein. Dafür muss ich nicht rückblickend Scham entwickeln, und die Kindheitserinnerung auch nicht verteufeln. Ich kann immer noch die Aufregung über die echten Explosionen nachfühlen, die man noch in den oberen Reihen warm auf dem Gesicht fühlen konnte. Klar war das damals ein Highlight für mich und niemand erwartet, dass ich das aus meinem Gedächtnis lösche.
Allerdings fand ich erstmal auch den Gedanken absurd, bestimmte Kostüme in Kindergärten oder Schulen zu verbieten. Ich habe reagiert, als wäre es mein Recht, mich doch bitte so zu verkleiden, wie ich es möchte. (Hier bitte an die Mobbinggeschichte oben zurückdenken. Ich darf mich doch anziehen, wie ich will. Richtig?)
Anders bei den Schotten. Ich würde auch meinen Schotten-Mini sofort einmotten, wenn ich das als Richtlinie bekommen würde von den Clans, denen diese Muster eben gehören. Für das Tragen schottischer Kleidung gilt laut www.wholfrhine.de übrigens: „Niemals dürfen Sie Adlerfedern an Ihrem Bonnet tragen, dies ist nur Clanchiefs (3 Federn), Chieftains (2 Federn) und Ehrenmännern mit eigenem Wappen (1 Feder) vorbehalten.“
Ihr könnt ja mal eben für euch checken, wo vielleicht der Unterschied zwischen Schotten und den indigenen Völkern Nordamerikas sein könnte. Es hat vermutlich nicht ausschließlich mit meinen persönlichen Kindheitserinnerungen zu tun. Die Karl-May-Festspiele finden übrigens immer noch statt.
Den automatischen und selbstverständlichen Respekt, den ich vor schottischen Traditionen habe, möchte ich gern auch auf andere Traditionen übertragen. Schade, dass es diese Übertragung überhaupt braucht.
Das wichtigste daran ist vielleicht, dass es eigentlich keiner Erklärungen bedarf. Schotten müssen mir nicht erklären, warum Tartan für sie eine Bedeutung hat (falls es das hat). Andere Völker müssen genausowenig erklären, warum ihre Trachten für mich ein Tabu sind. Ich kann das einfach hinnehmen. Es sollten nicht erst Genozide und Unterdrückungsgeschichten ausgepackt werden müssen, damit ich das achte. Aber um ehrlich zu sein? Das war tatsächlich notwendig, damit ich in meinen Gedanken so weit komme, wie ich jetzt gerade bin. (Das schließt mit ein, dass ich vielleicht erst 10% der Problematik begriffen habe, und vielleicht schreibe ich auch in diesem Text etwas, das murksig oder nicht ok ist.) Ich musste vielleicht sehen, worauf meine Kindheitserinnerungen aufgebaut waren, damit ich verstehen konnte, welche Gewalt darin steckt.
Wenn man mit Gewalt konfrontiert wird, egal welcher Art, dann ist Verleugnung eine relativ normalmenschliche Reaktion. Sonst würde es uns leichter fallen, z. B. Mobbing zu unterbinden oder etwas zu sagen, wenn jemand rassistische oder sexistische Äußerungen tätigt. Auch in anderen Kontexten (z. B. wenn Kinder äußern, dass ihnen jemand weh tut) wird oft erstmal verleugnet.
Ich finde es wichtig, das hier zu erwähnen. Denn wenn man darum weiß, ist es einfacher, der eigenen Verleugnung zu begegnen. Dann kann man eher auf das unbestimmte Gefühl achten, dass etwas nicht ok ist, statt auf die flüsternde Stimme im Kopf, die sagt: „Alles gut. Kein Problem. Da wird gar nicht gemobbt. Ich muss da gar nicht eingreifen.“
Wenn ich jetzt die Karl-May-Festspiele meide, dann nicht, weil mir irgendjemand verboten hätte, hinzugehen. Sondern weil ich nicht mehr anders kann, als die Gewalt darin zu sehen. Und ja, da lösche ich meine Kindheitserinnerung nicht, doch sie bekommt einen ziemlich düsteren Schatten. Aber vielleicht finde ich ja irgendwann eine Show mit Pferden, Explosionen, Freundschaft und Witz, die ich dann auch gemeinsam mit meinem Kind wirklich genießen kann.

PS: Ich glaube, dass wir über unsere inneren Widerstände sprechen müssen. Die Widerstände, die uns daran hindern, zuzuhören, Gewalt zu erkennen, gute Allys zu sein. Ich versuche das hier, versuche, ehrlich über meine eigenen Verzerrungen zu schreiben, weil es vielleicht anderen hilft, ihre zu erkennen. Es fühlt sich – um ehrlich zu sein – gar nicht mal so angenehm an. Müsst ihr jetzt alle wissen, dass ich Gewalt manchmal lieber verleugnen würde oder früher mal Karl May zumindest ein wenig mochte?
- Quellen zum Tartan:
- http://houseofscotland.at/über-das-schottenmuster/
- http://www.razyboard.com/system/morethread-nichtberechtigtes-tragen-von-tartany-george__macgregor-2095945-5708318-0.html
- https://www.wolfrhine.de/index.php/schottische-tradition/highland-dress-2
- https://blog.the-british-shop.de/page/view/2019/01/gar-nicht-kleinkariert-tartan-und-seine-geschichte
- https://de.wikipedia.org/wiki/Tartan_(Muster)
- https://www.visitscotland.com/de-de/blog/scotland/scottish-tartan-faq/