Ich war vor kurzem mit meinem Kind im Schnee spazieren. Es ist jetzt in einem Alter, wo es einfach alles imitiert. Gesichtsausdrücke, Gestik. Wo ich gern meinen Kaffeebecher hinstelle. Alles. Ich hatte ein bisschen Schnee in meine behandschuhten Hände genommen und in die Luft geworfen. Das fand mein Kind ziemlich lustig. Also habe ich das immer und immer wieder gemacht, bis ich irgendwann keine Lust mehr hatte. Dann habe ich mir den Schnee von den Händen geklopft.
Was tut mein Kind? Richtig. Es imitiert die Bewegung, obwohl da gar kein Schnee an seinen Händen ist. Ich fand das ulkig und habe das auf dem Spaziergang gleich noch ein paar Mal ausprobiert.
Dabei kam mir ein Gedanke, den ich jetzt hier auch zu Papier bringen möchte:
Wir Menschen lernen viel Verhalten auf genau diese Weise. Wir tun es, bevor wir den Sinn verstehen. Wir klopfen Schnee von unseren Händen, wenn da gar keiner ist. Wir plappern nach, was uns gesagt wird, ohne überhaupt die Wörter zu verstehen. Wir lernen Denkmuster, die wir nicht hinterfragen können, weil wir noch gar nicht hinterfragen gelernt haben.
Wir lernen Normen. Wir lernen Sexismus, Rassismus, Ableismus. Alles auf diese Weise. Wir sehen es nicht nur. Wir imitieren es augenblicklich. Wir machen es uns zu eigen, wie wir uns alles zu eigen machen, was uns vorgelebt wird.
An meinen Händen ist kein Schnee. Ich denke nicht, dass Frauen weniger wert wären als Männer. Ich denke nicht, dass weiße oder westlich geprägte Menschen anderen überlegen wären. Ich denke nicht, dass der Wert eines Menschen an seinen verwertbaren Fähigkeiten hinge.
Aber trotzdem wiederhole ich das Verhalten, mit dem ich aufgewachsen bin. Trotzdem klingt das Wort „Hauptschule“ für mich negativ oder die Ankündigung, in einer mündlichen Prüfung einer Frau und keinem Mann gegenüber sitzen zu müssen, positiv (obwohl meine Prüfungen bei Männern eigentlich die angenehmeren waren bisher). Und ich bin auch leider manchmal immer noch überrascht, wenn eine Frau mit Kopftuch gar nicht schüchtern oder hilflos ist.
In meinen Geschichten würden permanent die Männer den Tag retten und die Frauen in den Hintergrund gedrängt werden, wenn ich nicht bewusst darauf gucken würde, dass das nicht passiert. Wenn man sich ein Leben lang die Hände abgeklopft hat, denkt man eben auch, dass das so sein sollte. Als ich vor einer Weile mal eine Szene schrieb, in der drei junge Frauen ein plotrelevantes Gespräch miteinander führen (ganz ohne Mann in der Nähe), fühlte sich das irgendwie falsch an. Verboten, nahezu.
„Was tue ich da eigentlich?“, dachte ich, „Irgendwas stimmt doch nicht mit der Szene. Die wirkt irgendwie fade. Langweilig. Da fehlt doch was.“
Aber es fehlte nichts. Es war nur ungewohnt. Es war ungewohnt, den Frauen gewichtige Worte in den Mund zu legen. Es war ungewohnt, den Leser*innen Einblick zu gewähren in diesen Raum ohne männlichen Blick.
Man muss manchmal gegen die internalisierten Tropes ankämpfen. Und das nicht nur in seinen Geschichten. Man muss sich eingestehen, wie stark das eigene Verhalten von internalisiertem Mist gesteuert wird, und versuchen, es zu ändern. Und zwar bewusst. Denn sonst landet man doch immer wieder in den alten, ausgetrampelten Pfaden.
Sonst klopft man sich noch mitten im Sommer den Schnee von den Händen.
